»Bist du eingeschlafen und schlafgewandelt?«
Ariana schnaubte. »Natürlich nicht.«
»Wie kann diese Geschichte dann wahr sein?«
»Woher soll ich das wissen?«, herrschte sie ihn an. Sie war müde und hatte keine Lust mehr auf seine Verhörmethoden. Sie wollte schlafen. Womöglich wachte sie ja in ihrem eigenen Bett auf. »Es ist einfach passiert. Mir war schwindelig, alles drehte sich, ich brach zusammen und kam hier wieder zu mir.«
Der Fremde schwieg. Er warf ein Stück Holz in die Flammen und stocherte erneut darin herum.
»Ich nehme dich mit. Du kannst bei mir arbeiten, bis ich weiß, zu wem du gehörst und was an deiner Geschichte dran ist.«
»Ich soll arbeiten?«
Er verzog keine Miene. »Du bist eine Mindere. Was glaubst du, was Mindere tun, hm?«
Pikiert löste sie ihre Haltung auf. »Ich bin eine Prinzessin, Prinzessin Ariana von Tarnàl. Ich arbeite bestimmt nicht für dich.«
Sie klopfte sich beim Aufstehen erneut den Schmutz von ihrem zerrissenen Kleid. Wenn dieser Kerl meinte, er könne mit ihr verfahren, wie es ihm passte, hatte er sich geirrt. Sie würde sicher nicht zu einer ordinären Putze, weil sie ihm zufällig in die Arme fiel.
Er stand ebenfalls auf. Den Stock, mit dem er das Feuer angefacht hatte, legte er in aller Seelenruhe neben sich auf die Erde. Dann musterte er sie abschätzig.
»Du bist ein Mensch, oder etwa nicht?«, verlangte er zu wissen. Langsam nickte sie. »Dann bist du eine Mindere. Irgendwem gehörst du. Ich vermute, dass du aus irgendwelchen Gründen davongelaufen bist. Also sagst du mir jetzt entweder die Wahrheit oder du kommst fürs Erste mit.«
»Das ist doch absurd! Ich arbeite nicht. Das machen die Hausmädchen.«
Er schritt langsam um das Feuer herum und kam auf sie zu. Was wollte er tun, sie fesseln und knebeln? Ariana erkannte, dass diese Welt absolut nichts mit der gemeinsam hatte, die sie zwischen den Zeilen kennengelernt hatte. Sie umkreiste ebenfalls die Flammen.
»Jede und jeder Mindere gehört jemanden, man erkennt es an dem Zeichen. Es gibt keine freien Menschen in diesem Land«, erklärte er sachlich. Ehe sie nach dem Merkmal fragen konnte, sprach er weiter. »Wer ist dieser Fionn? Ein Elf – oder ein Troll?« Er musterte sie mit gerunzelter Stirn. »Oder wurde dein Heim vielleicht von dem Nichts verschlungen?«
Sie warf ihm einen hastigen Blick zu. »Ich weiß nicht, wovon du redest, aber in meinem Land gibt es keinerlei Knechtschaft. Es gibt auch keine Elfen mit spitzen Ohren.« Sie sagte es in einem schnippischen Tonfall. Wenn er wollte, konnte der Kerl ihn durchaus als Beleidigung verstehen. Ariana wollte diesem Wesen sicher nicht zu nahe treten – immerhin hatte sie ja nicht die geringste Ahnung, wie sie zurück nach Tarnàl kommen sollte. Allerdings sah sie ein Problem darin, dass er meinte, sie gehörte jemandem und müsse arbeiten.
Jäh sprang der Fremde mit einem weiten Satz über das Feuer hinweg auf sie zu.
Ariana keuchte. Für einen Schrei blieb ihr keine Zeit. Sie stolperte von ihm weg, da packte er ihre Arme und hielt sie fest. Sie verzog das Gesicht vor Schmerz angesichts seines unerbittlichen Griffes.
»Ich warne dich einmal«, knurrte er dicht vor ihr. »Wage es nicht wieder, mein Volk zu beleidigen. Ein Mensch wie du«, hier glitt sein Blick über ihren Körper, »bedeutet hier nichts. Hörst du?! GAR NICHTS.«
Er stieß sie von sich, sodass Ariana zurücktaumelte. »Besser, du begreifst das schnell«, fügte er hinzu. Dann wandte er ihr den Rücken zu, um zu seinem ursprünglichen Platz zurückzukehren.
Wut über diese ungerechte Behandlung kroch ihr über die Haut. Sie presste die Lippen aufeinander und unterdrückte die Tirade, die ihr auf der Zunge lag. Schweigend trat sie zurück an das Feuer. Die Nacht war kühl.
Sie spürte seinen Blick im Rücken, als sie sich neben den wärmenden Flammen zusammenrollte, aber es war ihr egal. Was kümmerte es sie, wenn er sie anstarrte, getrieben von Neugier und einem Bewusstsein für das Fremde? Was konnte sie dafür, dass er ihr nicht glaubte? Dass er durchweg falsche Vorstellungen von Menschen hatte und nicht begriff, wer sie war oder wie ihr Leben bisher ausgesehen hatte? Ein Schluchzen verengte ihr die Kehle. Ariana biss sich auf die Unterlippe, um kein Geräusch von sich zu geben.
Hinter sich hörte sie ihn im Holz stochern. Ein Ast knackte. Die Hitze der Flammen wärmte ihr den Rücken wie eine schützende Decke. Wenn dieser Elf nicht auf der anderen Seite des Feuers wäre, hätte sie seelenruhig daliegen können. Stattdessen lag die Macht ihrer Gefühle, wie eine schwere Last, auf ihr. Es presste ihr die Luft ab und trieb ihr das Wasser in die Augen. Tränen rannen ihr über die Wangen und den schmalen Nasenrücken. Sogar das rotzige Schniefen gestand sie sich nicht zu. Sie wollte verdammt sein, wenn sie zuließ, dass er ein Geräusch der Schmach von ihr vernahm oder ihre Schwäche sah. Das Buch lag in der Tasche unverändert tröstlich an ihrem linken Oberschenkel. Die Trauer darüber, was sie verloren hatte, schwappte über ihre Seele hinweg. Ihr Gesicht verzog sich und ihre Schultern erzitterten. Wie sollte sie wieder nach Hause finden? Mutterseelenallein hatte sie keinerlei Chancen. Sie kannte das, was das Buch ihr bot – und das war dürftig. Diese Welt unterschied sich dermaßen von der Geschichte, dass Ariana nicht mehr sicher war, ob sie ernsthaft in dem Buch feststeckte.
Wenn sie bei dem merkwürdigen Kerl blieb, bestand zumindest eine geringe Chance, dass sie herausfand, wo sie war und wie sie wieder wegkam. Ungeachtet dessen hoffte sie, dass seine Ansichten über Menschen nicht die aller widerspiegelten.
Das gesamte Königreich Tarnàl durchkämmte das Land auf der Suche nach Prinzessin Ariana. Prinz Fionn verschwieg gegenüber dem König das Gespräch mitsamt dem anschließenden Kuss mit dessen Tochter. Er redete sich ein, dass nicht er für ihr Verschwinden verantwortlich war.
»Wo ist sie nur?«, sagte Arianas Vater, König Arlàn. Er war hochgewachsen mit breiten Schultern. Die Verzweiflung über den plötzlichen Verlust des einzigen Kindes ließ ihn älter aussehen. Tiefe Gräben der Sorge zerfurchten sein Gesicht. Sein Haar stand wirrer als an regulären Tagen von dem herrschaftlichen Haupt ab. Fionn wandte den Blick ab. War Ariana wegen ihm fort? Das fragte er sich, seit sie verschwand. Wie konnte sie derart rasch entschwinden? Bei der Suche nach ihr waren die Bibliothek und ihre Leseecke genauso wie beim letzten Mal. Der Kristall hatte den Raum unverändert erhellt, als Fionn eintrat. Einzig seine Blume und ihr Buch fehlten ebenso wie sie.
Er liebte Ariana. Es quälte ihn, dass er womöglich die Schuld trug und sie schlimmstenfalls seinetwegen die Flucht ergriffen hatte. Dabei überraschte es ihn, dass niemand eine Spur von ihr fand. In jeder Kammer, in jedem Haus, hinter jedem Gebüsch schauten sie nach.
Sie fanden nichts, nicht einmal einen Faden ihres Kleides.
»Ich finde sie«, sagte er zu ihrem Vater und beugte das Knie vor ihm. »Das verspreche ich Euch.«
»Ach, Prinz Fionn…«, seufzte der König erschöpft. »Ihr seid ein ehrenwerter Mann. Ich vertraue auf Euch. Ihr kennt Ariana schon so lange. Nur Ihr könntet erahnen, wo sie hingelaufen ist – oder warum sie überhaupt fortlief.«
»Ich fürchte, ich kenne sie längst nicht gut genug.«
»Aber Ihr vermutet doch sicher etwas?«
Die Hoffnung in der Stimme des Königs war kaum zu überhören. Fionn begegnete seinem Blick. »Ich fürchte leider nein, mein Herr. Ich sprach mit Ariana zuletzt während der Feier anlässlich unserer Verlobung. Danach sah ich sie nicht wieder.«
Die Lüge kam ihm glatt von den Lippen. Etwas in der Kehle blockierte und er räusperte sich.
»Schade«, entgegnete der König nach einem Augenblick.
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