Kieran war der Herrscher über die Dunkelelfen. Er war es, dem es oblag, eine Lösung zu finden, um sie vor dem drohenden Tod zu bewahren. Sie alle setzten auf die Urteilskraft ihres Oberhauptes, auf sein Wissen und seine Erfahrung. Dadurch war der Schuldige greifbar, sobald die Welt unterging.
»Stell einen Trupp zusammen«, erklärte er Bran, ehe er an alle gerichtet fortfuhr: »Ich will mit eigenen Augen sehen, wie schlimm es um die Länder steht und wie zerstörerisch das Nichts um sich greift. Alle anderen kümmern sich darum, unsere Leute aus den gefährdeten Gebieten herauszuholen.«
»Sehr wohl«, erwiderte Bran. Er verneigte sich ein letztes Mal, ehe er sich zurückzog, um den Befehl zu befolgen.
Ab da war Kieran unkonzentriert. Unruhe kroch ihm durch die Venen, pulsierte in seinem Inneren. Die Schwärze beunruhigte ihn ebenso wie alle anderen. Wie sollte er sie aufhalten?
Sie verließen das unterirdische Höhlensystem, das sie seit Jahrtausenden bewohnten, und ritten nach Norden. Das bedrohliche Reich, diese Düsternis, die mit den finsteren Seelen der Dunkelelfen konkurrierte, hing über dem Land wie eine pechschwarze Wolke. Wie dichter, giftiger Nebel bedeckte es Bäume, Seen und alles, was in seine Nähe geriet. Dabei verströmte es eiskalte, trockene Luft, die jegliches Leben aus seinem Dunstkreis vertrieb. Das Nichts verschluckte jedes Licht. Kieran fröstelte. Denn die Schwärze breitete sich aus wie eine Krankheit. Sie war eine Seuche, die sich Tag für Tag den Grenzen des Elfenlandes näherte und es bedrohte.
»Kieran«, hörte er Bran neben sich. Er wandte den Blick ihm zu; weg von der düsteren Bedrohung vor ihnen. »Was sollen wir unternehmen?«
»Wir brauchen Antworten. Wie tödlich ist die Schwärze wirklich? Es kursieren zu viele Gerüchte. Alle spekulieren und vermuten etwas, aber niemand weiß etwas Genaues. Das muss sich ändern.« Er zögerte. Der nachfolgende Befehl fiel ihm nicht leicht, aber er sah keinen anderen Weg. Sie brauchten die Information dringender denn je. »Entsende eine kleine Gruppe, nicht mehr als vier Männer. Sie sollen erforschen, wie gefährlich die Schwärze ist, wie nah wir ihr kommen dürfen, ohne einen Schaden davonzutragen.«
Bran nickte. Seine Schultern hingen herab. In den kastanienbraunen Augen spiegelte sich die Sorge, die alle umtrieb. Kieran wandte den Blick ab. Er war seit dem ersten Ausdehnen der Finsternis vor ein paar Wochen besorgt. Da bedurfte es nicht zusätzlich Brans Mienenspiel.
Nach einer Weile hörte er, wie sein Freund sich entfernte und die notwendigen Schritte einleitete. Der Trupp bestand aus drei hochgewachsenen Elfen und einer Menschensklavin mit rostroten Haaren, deren Hände mit einem Seil an ein Pferd gebunden waren. Es war klar, welche Aufgabe die Mindere zu erfüllen hätte. Kieran ignorierte die Kälte, die sein Rückgrat hinaufkroch. Stattdessen wendete er sein Tier und bellte Befehle. Er hatte etwas anderes zu erledigen.
Bran quittierte den Aufbruch des Königs mit einem spöttischen Blick. Er war der Einzige, der die Wahrheit kannte. Nur er wusste, wie unwohl sich der Herrscher im Umgang mit Minderen fühlte. Zugleich war ausschließlich ihm im Land bekannt, welche Art der Bindung sein Gebieter zur Elfe Fanrày hegte.
Sie gehörte wie Kieran zum Volk der Elfen. Dennoch gefährdete er seine und ihre Position im Reich, indem er sie aufsuchte. Der Kontakt zu ihr war riskant, obwohl sie einander seit Jahrhunderten kannten. Es grenzte an ein Wunder, dass ihre Verbindung im Verborgenen überhaupt Bestand und Bedeutung hatte. Weder Dunkelelfen noch Hochelfen hätten geduldet, dass sich die Rassen vermischten. Allein eine derartige Vermutung barg das Risiko, das Kieran mindestens den Thron und Fanrày das Leben verloren.
Er traf sie, sobald sich eine Möglichkeit bot. Keiner von ihnen brachte bei derlei Gelegenheit das Wort Liebe über die Lippen. Sie respektierten und achteten einander. Ein-, zweimal lag Kieran ein solches Geständnis trotzdem auf der Zunge. Dann aber lachte Fanrày und wandte sich ab. Sie verstanden sich, ohne diese lächerlichen Worte in den Mund zu nehmen.
Jetzt trieb ihn die Sorge um sie an. Sie lebte in einer Hütte tief im Wald verborgen. Die Entfernung hinderte ihn nicht, sie aufzusuchen. Da er der König der Dunkelelfen war, stellte kaum einer eine Frage. Die Gerüchte, die sich um seine Herrschaft rankten, eilten ihm voraus und ließen ihn die meiste Zeit unbehelligt davonkommen.
Er schob einen Ast beiseite und stieg vom Pferd. Das Tier kannte den Ablauf. Sie waren oft gemeinsam an dieser Stelle des Waldes gewesen, sodass es den Kopf bereitwillig senkte und an den zarten Gräsern zupfte. Kieran hastete weiter, sprang über den unförmigen Felsen, der zwischen den Bäumen aufragte, hüpfte leichtfüßig über einen schmalen Bach hinweg und erreichte die alte Hütte.
Sie war heruntergekommen, sah auf den ersten Blick gänzlich verlassen aus. Ein verlorener Platz inmitten des Waldes. Anfangs hatte sie ihn wie alle anderen mit der Illusion getäuscht. Das gelang ihr schon lange nicht mehr bei ihm.
Entschlossen stieß er die Tür auf.
»Na, sieh einer an, wer da hereinkommt«, spottete sie. Ihre moosgrünen Augen strahlten vor Freude, als sie nähertrat, um ihn zu begrüßen. Kierans Mundwinkel hoben sich zu einem breiten Grinsen.
»Gib es zu, Fan, diesmal hast du mich vermisst.«
»Einen Dunkelelfen wie dich? Pah!«, entgegnete sie und grinste ebenso.
Er umschloss ihre schlanke Taille und zog sie dicht zu sich heran.
Fanrày gehörte keiner Rasse der Elfen eindeutig an. Da sie seit jeher eine Waise war, die zur Hälfte das Blut von Hochelfen und Dunkelelfen in sich vereinte, war ihr Aussehen eine wilde Mischung aus dunkler Haut, grünen Augen und schwarzen Haaren. Sie war von hoher Statur und überragte Kieran und viele andere des Volkes. Da, wo Dunkelelfen bloß Hohn, Boshaftigkeit und mutwillige Zerstörung kannten, schätzte Fanrày den Frieden des Waldes. Ihrem Spott fehlte manche Spitze und ihr Humor wirkte oft unangemessen. Ihre Abstammung sorgte für Reibereien zwischen den beiden Stämmen: Niemand vertraute ihr. Das war der Grund, warum sie derart zurückgezogen tief im Wald lebte.
Die Hochelfen hielten sie für verlogen und hinterhältig, ein falsches Wesen unter ihnen. Die Dunkelelfen verhöhnten ihre Sanftmütigkeit. Denn als eine Tochter des Waldes lag ihr das Lügen nicht. Die Wahrheit stand in ihrem Gesicht geschrieben, ob sie es beabsichtigte oder nicht.
Jetzt lächelte sie. Sie hob eine schwarze Augenbraue. »Was ist, mein kleiner Elfenkönig, willst du mich nur ansehen oder bekomme ich auch einen K—«
Kieran ließ sich nicht zweimal bitten. Er umfasste kurzerhand ihren Nacken, zog sie zu sich heran und küsste sie. Gefühle schwappten über sein finsteres Herz. Ihre Küsse waren zart wie Schmetterlinge, ein Hauch des Windes, der durch den Wald strich, warm und weich. Sie passten nicht so recht zu ihrem übrigen Erscheinungsbild. Die Hochelfe in ihr streckte ihre Magie nach ihm aus. Zarte Blumenknospen wuchsen auf seinem Hemd und eine Ranke breitete sich auf dem Arm aus. Er störte sich nicht daran. Ihm gefiel es, wenn Fanràys Gefühle offen zur Schau standen. Er fragte sich flüchtig, was ihn an Fanrày anzog, als ihm etwas auffiel. Er grinste an ihren Lippen und löste den Kontakt. Sie sah ihn mit geröteten Wangen an.
»Was ist?«, erkundigte sie sich. Kieran registrierte mit einer ordentlichen Portion Selbstgefälligkeit den heiseren Unterton in ihrer Stimme.
»Willst du mich gleich hierbehalten, Fan?«, entgegnete er trocken und hob eine Augenbraue. Als Fanrày seinem Blick zu ihren Füßen folgte, stolperte sie erschrocken ein paar Schritte zurück. Sie schlug sich die Hand vor den Mund.
»Oje …«, rief sie aus.
Kieran prustete los. Seine Füße steckten in einem dicken Wurzelgeflecht. Erde hüllte ihn bis zu den Knöcheln ein. Er lachte herzhaft, wodurch er kurz wankte, ehe er das Gleichgewicht verlor und rückwärts zu Boden fiel. Dort hielt er sich den Bauch. Ihm rannen Tränen über die Wangen. Tief im Inneren war es ihm bewusst, dass sich ein Dunkelelf niemals derart gehen ließ. Das heitere Gelächter war für ihn ungewohnt. Fanrày war die einzige Person, bei der es ihm gelang, die harte Schale seiner Herkunft mühelos abzustreifen. Das, was darunter für alle anderen verborgen lag, erstaunte ihn oft genug selbst.
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