Die ausladende Bekleidung milderte den Aufprall des Geschöpfes, das vor Schmerz stöhnte. Es war offenkundig keine Elfe, die er vor sich hatte. Eine Elfe hätte niemals ein derartiges Theater veranstaltet. Elfen zeichneten sich durch ihr körperliches Geschick aus. Sie wären weitaus unauffälliger. Ein Troll schien es ebenso wenig zu sein. Solche nächtigten in feuchten Höhlen und an unwirtlichen Orten. Außerdem waren sie nicht so zierlich, geschweige denn in Kleider gehüllt. Zwangsläufig glitt sein Blick über die unverkennbar weiblichen Kurven, die sich unter den zahlreichen Lagen Stoff abzeichneten.
Gelassen steckte er den Dolch zurück in die Hülle an seinem Gürtel, verschränkte die Arme und lehnte sich an einen Baum. »Wer bist du?«, fragte er.
Die Frau fuhr zu ihm herum. Ihr Gesicht leuchtete fast silbern im diffusen Licht des Mondes. Ihre Augen schimmerten, der Mund stand ihr offen und ihr Kleid war rissig.
»Hast du deine Stimme verloren?«, fragte er sie schroff.
Sie schlug die Lider nieder, ehe sie sich erhob und die Kleidung abklopfte. Sie verzog das Gesicht vor Schmerz. Der Sturz hatte vermutlich wehgetan. Kieran half ihr nicht. Er umklammerte seine Arme und zwang sich zur Ruhe. Sie war eine Mindere. Ihr Kleid deutete darauf hin, dass sie entweder ausgestoßen oder weggelaufen war. Er tippte auf Letzteres.
»Wer bist du?«
Die tiefe, melodiöse Stimme ließ sie erschreckt zusammenfahren. Ariana rappelte sich hoch, ignorierte ihre schmerzenden und steifen Glieder und drehte sich zu dem Sprecher um. Ihre Hand strich beiläufig über den Rock, obwohl sie wusste, dass es nichts nutzte: Der Stoff war ruiniert.
Seine Gestalt war ein schwarzer Schatten, der an einem Baumstamm lehnte und die Arme verschränkt hielt.
»Hast du deine Stimme verloren?«, fragte er sie barsch.
Empört über den ruppigen Tonfall senkte sie den Blick. Sie klopfte den Dreck vom Kleid. Ihre Hüfte schmerzte, ihr Rücken ebenso und an ihre Schultern dachte sie am besten gar nicht erst.
»Ich bin Prinzessin Ariana«, sagte sie nach einem Augenblick.
»Prinzessin?«, hakte er nach und verlagerte sein Gewicht.
Sie nickte.
»Du lügst.«
Erstaunt sah sie ihn an. »Und warum sollte ich das tun?«
Er löste sich von dem Baum und deutete auf ihre Gestalt. »Du bist ein Mensch.«
»Ja…?«, wandte sie gedehnt ein. Langsam trat er näher. Er lief einmal um sie herum und taxierte sie von oben bis unten. Ariana unterdrückte den Drang, mehr Distanz zwischen sie zu bringen.
»Warum warst du auf dem Baum?«, fragte er und trat wieder vor sie.
»Ich versuchte zu schlafen.«
Er wies auf einen Riss in ihrem Ärmel. »Dein Kleid ist zerrissen.«
Sie runzelte die Stirn. Sie hätte den Schaden gerne näher betrachtet, doch es war mittlerweile zu dunkel dafür. Der Kerl hatte scharfe Augen, bemerkte sie. »Vermutlich ist es nicht der einzige«, meinte sie. Jetzt, da er nähergekommen war, erkannte sie die Gesichtszüge besser.
Sein Mundwinkel zuckte. Die winzige Bewegung verlieh ihr mehr Mut und sie lächelte ihn an. Er behielt jedoch die Maske der Gleichgültigkeit. Ariana zwang sich zum Durchatmen. Dabei fiel ihr Blick auf seine Ohren. Kurz war sie irritiert. War es eine Täuschung aufgrund des nächtlichen Dunkels? Er legte den Kopf schief, wie um ihr die Sicht zu erleichtern. »Du hast sie ja wirklich!«, entfuhr es ihr prompt. Sie beugte sich ein Stückchen vor, um die spitz zulaufenden Sinnesorgane näher zu betrachten, aber der Fremde wich einen Schritt zurück.
In seiner Miene rangen Argwohn, Neugier und Missfallen miteinander. Schließlich verschränkte er erneut die Arme und straffte die Schultern.
»Hast du jetzt deine Stimme verloren?«, wagte sie sich mit einem kühnen Grinsen vor.
»Ich bin ein Dunkelelf, Mindere, und ich bin dir keinerlei Erklärung schuldig. Sobald der Tag anbricht, kommst du mit mir.«
»Aber … das geht nicht!«, widersprach sie ihm heftig. Der Kerl packte ihren Arm.
»Hör zu«, zischte er und neigte sich ihr zu. Mit schreckgeweiteten Augen sah sie zu ihm auf. »Ich weiß nicht, woher du kommst oder wer du glaubst zu sein. Ich weiß nur: Du bist ein Mensch. Du hast hier überhaupt nichts zu suchen. Also tust du, was ich dir befehle, verstanden?« Er schüttelte sie kurz und ließ ihr keine andere Wahl. Ariana nickte – und er ließ sie los.
Sie starrte ihn an. Die Art, wie er mit ihr sprach, verwirrte sie. Wie er das Wort Mensch aussprach, bereitete ihr Sorgen. Er hatte es ihr voller Verachtung entgegengeschleudert. Allerdings war da ein zusätzlicher Unterton verborgen gewesen. Ein Beiklang, der sie an seinen Worten zweifeln ließ. Gleichzeitig ängstigte es sie, dass der Unbekannte ihr nicht glaubte. Auf der anderen Seite gehörte sie ohnehin nicht in diese Welt. Die Welt, die Teil einer Erzählung sein musste, war ihr zu fremd. In ihrem Roman gab es keinen dahergelaufenen Kerl wie ihn.
In ihrem Buch existierte ein Held, jene Figur, die am Ende die Welt rettete. Eine Begegnung mit einem spitzohrigen Mann erwähnte die Geschichte kein bisschen.
Erneut sah sie zu ihm herüber.
Er entzündete ein Feuer, wodurch sie ihn besser erkannte. Seine Haut faszinierte sie. Daheim in Tarnàl waren alle blass, die Haut eines jeden war wie Perlmutt. Niemand war dort gebräunt. Außerdem hatte keiner braunes oder schwarzes Haar oder derartig gefärbte Augen. Dieser Unbekannte weckte ihr Interesse.
»Was starrst du mich so an? Noch nie einen Dunkelelf von Nahem gesehen?«, knurrte er. Sie hörte ihn verächtlich schnauben. »Woher kommst du, dass du die Unterschiede nicht kennst, Mensch?«
»Nenn mich nicht so«, forderte sie. »Ich heiße Ariana.«
»Wie auch immer.«
Er stocherte mit einem Stock im Feuer, sodass die Funken stoben und in die Nacht hinaufflogen, ehe sie verglühten.
»Und nein, ich kenne keine … Dunkelelfen.«
Sein Blick hatte etwas Glühendes, Brennendes. Vielleicht lag es an der Reflexion der Flammen. Dennoch unterdrückte Ariana einen Schauer.
Intensiv musterte er sie. »Und warum kennst du keine Dunkelelfen, Mensch?«
»Weil ich nicht von hier stamme.«
Einen Moment grübelte er über ihre Antwort nach. »Woher stammst du dann?«
Sie drängte ein Gähnen der Erschöpfung zurück. »Aus Tarnàl«, antwortete sie wahrheitsgemäß.
»Tarnàl.« Misstrauen legte sich in seine Züge, die daraufhin härter und kantiger aussahen. »Solch einen Ort gibt es nicht.«
»Hier vielleicht nicht. Da, wo ich herkomme, schon.«
Ariana sah deutlich den Zweifel. Er hielt sie entweder für verrückt oder für eine Lügnerin – vielleicht auch für beides, das war unübersehbar.
»Und was treibt dich hierher?«, forschte er weiter.
Sie senkte den Blick und sah in die Flammen. »Es war ein Unfall, schätze ich.« Wieder hüllte sein Schweigen sie ein, sodass sie sich gezwungen sah, mehr zu sagen. »Glaub ja nicht, ich wollte hierhin. Eigentlich wollte ich bloß lesen, um den Fragen meines Verlobten auszuweichen.«
»Lesen?« Seine Stimme troff vor Unglauben.
Ariana starrte ihn finster an. »Ja, lesen. Was ist so schlimm daran?«
»Nichts. Sprich weiter, wer ist dieser Verlobte?«
»Sein Name ist Fionn. Prinz Fionn von Farnàl. Wir sollen bald heiraten.« Sie hielt kurz inne bei der Erinnerung an den Kuss und ihr letztes Gespräch. »Jedenfalls setzte ich mich in meinen Lesesessel und mir wurde schwindelig. Ich fiel zu Boden und als ich zu mir kam, da fand ich mich … hier wieder.« Sie machte eine umfassende Geste mit ihrem Arm und bezeichnete damit den Wald, ihn und alles drum herum.
Er starrte sie an. »Hat man dich entführt?«, fragte er. Dabei musterte er schon wieder ihre Erscheinung.
»Ähm… nein?«
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