Kapitel 2 – „Himmelshafen“
Um zum Flughafen zu gelangen mußte ich zum Stadtkern hin fahren. Was die Stadtplaner dazu bewogen haben mochte, den Flughafen ausgerechnet dort anzusiedeln, wo die Bevölkerungsballung und Bautendichte am ausgeprägtesten sind, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich nehme an, daß der Ort des Flughafens, Sky Harbor, zu Deutsch “Himmelshafen” einstmals gleich am Stadtrand oder ein bißchen außerhalb des alten Phoenix gelegen haben muß, und daß der rasante Bevölkerungszuwachs, der Phoenix in allen Himmelsrichtungen in die Wüste hinein ausweiten ließ, das Flughafenareal einfach eingekreiste und verschluckte. Auf jeden Fall fuhr ich zuerst gemächlich in dünnem Verkehr, der jedoch je weiter in die Stadt hinein mit zunehmendem Betrieb eine entsprechende Geschwindigkeitserhöhung hinlegte. Bald war nichts mehr von der Wüste zu spüren und die Innenstadt glich jeder anderen bis auf die Tatsache, daß in Phoenix nicht so hoch gebaut wird, wie es in den meisten Großstädten in den USA der Fall ist. Und da hat man noch das Empfinden einer noch vorhandenen Weite.
Am Flughafen angekommen stellte ich meinen Wagen in der zum Terminal nächsten Parkgarage und schloß ab, und mit noch fast zwei Stunden bis zum Abflug ließ ich mir Zeit, die Strecke zum Flughafengebäude hinter mich zu bringen. Die normale Geschäftigkeit prägte das Geschehen um mich herum und halb ziellos daher bummelnd ließ ich Eindrücke des Flughafenbetriebes auf mich einströmen. Phoenix ist eine künstliche Stadt, das ist, sie ist auf künstliche Versorgungswege angewiesen. Die Lebensader Wasser zum Beispiel muß von weit her im Norden durch eine Serie von Staudämmen geholt werden, zweitens, die einzige, wirklich übriggebliebene Existenzgrundlage ist die günstige Winterwitterung, denn die frische und blütenstaubfreie Luft von einstmals, die man zur Stadtwerbung anpries, ist indes trotz aller umweltschützenden Anstrengungen so arg verschmutzt, daß die Berge, die die Stadt, the Valley of the Sun, das Sonnental, großenteils umgeben, oft nur noch als diesige, gelblich schimmernde Umrisse auszumachen sind. Es gibt eigentlich keinen Grund, keine wirtschaftliche Notwendigkeit, daß gerade dort, wo sich Phoenix befindet, eine Siedlung weiterbestehen soll. Aber sie tut es trotzdem.
Was zu meiner Neigung zum Minimalen gehört, ist mein Verzicht soweit es heutzutage geht auf Fernsehen. Dies aus mehreren Gründen, darunter zählt das möglichst breit anzusprechende Publikum. Ich bin einmal einem Germanisten begegnet, der auf “Pop Kultur” sich spezialisierte und dessen Tätigkeitsfeld zu nahezu neunzig Prozent aus Glotzebeschauung bestand. Mir ist nicht klar, wie er überhaupt einen anständigen Aufsatz, einen Vortrag oder ein Buch zustande bringen konnte. Wie sollte einem z.B. scharfsinnige Gedanken zu der allgemeinen Volksverhohnepipelung, wie das Fernsehen nicht ohne Grund tituliert wird, einfallen? Ist es tatsächlich möglich, eine geschmackvolle Arbeit über Geschmacklosigkeit zu verfassen? Wie kann man eine informierte und aufschlußreiche Studie über das tiefeingewurzelte Unwissen der breiten Öffentlichkeit zuwege bringen? Brauche ich mehr zu sagen? Es gibt, liebe Kollegen, Ergiebigeres in der Germanistik zu tun, als mit Vollgas in eine Sackgasse hineinzubrausen. Wie dem auch sei, ich sollte es später bereuen, zumindest an diesem einen Tag nicht ferngesehen zu haben, denn dann hätte ich meine für den heutigen Morgen vorgesehenen Reisepläne umgehend geändert.
Das Flughafengebäude betretend tat ich mich bei der Beibehaltung der seit langem ausgeübten Entbehrung schwer, denn in der Halle waren einige Fernsehapparate aufgestellt, vor denen jeweils ein kleines Menschenknäuel stand. Ich ließ mich am Schalter abfertigen und durch das Bedürfnis, die Zeit totzuschlagen und von Neugier aufgestachelt stiefelte ich doch auf eins der Geräte los. Zunächst einmal begriff ich nicht, was da an Aktualität die Aufmerksamkeit der Anwesenden hätte fesseln können. Denn, abgesehen von den lebenstreuen Farben des Bildes, das im Fernsehen gerade übertragen wurde, schien das Fernsehbild eine sonst genaue Wiedergabe der Schwarzweißfilme der Bombardierungen deutscher Städte im zweiten Weltkrieg. Es waren nämlich Luftaufnahmen eines Stadtviertels, das gerade in Schutt und Asche gelegt wurde, die typischen brennenden und ausgebrannten Gebäude Rauchsäulen von sich speiend beherrschten das Bild. Aber hier hatten wir mit einer direkten Übertragung zu tun. Die Aufnahmen, von einem Hubschrauber genommen waren nahe genug, um gerade noch Menschen auszumachen, wie sie randalierend durch die Straßen zogen und dabei entweder mit Benzinbomben Gebäude in Brand legten oder sich mit geplündertem Gut davon machten.
Ich wandte mich an einen Herrn, der wie gebannt oder vielleicht nur gedankenversunken, aber nichtsdestoweniger unentwegt hinschaute, und wagte es, ihn zu stören.
“Entschuldigung, können Sie mir bitte sagen, wo das ist und was dort los ist.”
Mein Gesprächspartner beäugte mich leicht ungläubig, als wäre ich sozusagen von Gestern. Es war mir schon ein bißchen peinlich gleich auf Anhieb als etwa ungewöhnlich oder gar verschroben ausgewiesen zu werden, denn anscheinend, was los war, war für die meisten natürlich schon lange keine Neuigkeit. Leicht seufzend erklärte er: “Selbstverständlich kann ich es Ihnen sagen, es ist schon wieder Los Angeles. Eine Wiederholung von Watts vierundsechzig. Wissen Sie, als das Schwarze Viertel in Flammen aufging? Auch die Ursache diesmal war nicht unähnlich, wegen diesem Schwarzen, schon wieder wegen einem Nichtsnutz, wissen Sie, der von einigen Polizisten verprügelt wurde. Die sind gestern freigesprochen worden. Die Unruhen haben gestern Abend angefangen und dauern, wie Sie sehen, noch an”.
Verwundert sah ich mir den Mann näher an. Er war selber schwarz, etwa Ende dreißig oder Anfang vierzig, leicht graumeliert, dezent gekleidet und obwohl er recht gesund und gut in Form aussah, wirkte er etwas gebeugt und müde.
“Warum wird noch nach Los Angeles geflogen? Es kann nicht so schlimm sein, wenn es noch erlaubt ist, in die Stadt einzufliegen.”
Er wandte sich von mir wieder dem Fernsehapparat zu.
“Da haben Sie wohl recht”, meinte er leise, “die Fluglinien und die Behörden sind beide bestimmt nicht bereit irgendwelche Risiken einzugehen. Alleine daher, daß sie durch eine Fehlentscheidung, womöglich verklagt werden können. Sie haften, wenn sie wissentlich in ein Kriegsgebiet fliegen.” Er sah hinunter auf seine Fußspitzen, blickte wieder zu mir auf, sah danach aus, als wollte er mir noch etwas sagen, besann sich eines anderen und sagte nur “Entschuldigung, ich muß gehen... guten Flug noch.” Er verließ den Halbkreis der Zuschauenden und überließ mir meine Gedanken.
Der Fall, auf den er sich bezogen hatte, handelte sich um einen nicht mehr so jungen Schwarzen, den die Polizei des Nachts wegen eines Verkehrsdeliktes oder seines schadhaften Autos anhalten und kontrollieren wollte. Statt sich zu fügen lieferte der Schwarze den Straßenverkehrsordnungshütern guten Grund für seine Festnahme. Eine wilde Jagd auf der Autobahn und durch Wohngebiete erfolgte, bevor er im wahrsten Sinne des Wortes zur Strecke gebracht wurde. Nachdem der Fahrer aus seinem Wagen herausgezerrt wurde, wollte er wegen bekifftem oder alkoholisiertem Geisteszustand immer noch nicht wahrhaben, daß es wohl an die Zeit gekommen war, doch einzulenken, leistete Widerstand, worauf mehrere weiße Polizisten über ihn herfielen, zu Boden knüppelten und auf den wehrlos auf dem Boden Liegenden weiter eindroschen. Das wäre das Ende der Episode gewesen, wenn nicht ein interessierter Bürger die polizeiliche Verfahrensweise beziehungsweise methodische Entgleisung von seinem Balkon filmisch aufgezeichnet und anschließend gegen ein bescheidenes Entgelt an die Presse geliefert hätte. Die Verbreitung der Nachricht schlug natürlich hohe Wogen, die nun ein Jahr später auf akut zugespitzte Weise zu spüren waren.
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