Und sollte in der Stadt das Einzelwesen doch eine vorgezeichnete bindende Ordnung vermissen und die überzogene Freiheitspflege als Haltlosigkeit empfinden, das Ausbleiben einer vorgegebenen, tatsächlich erstrebenwerten Lebensrichtung als Manko auffassen, dann läßt sich der Mißstand künstlich, in einträchtiger Übereinstimmung mit vielen anderen Lebensaspekten der Stadt, abstellen. Die Lösung vollzieht sich im Extremfall in der Form von entsprechend extremem, religiösem Gehalt für sich beanspruchenden, Zusammenhalt sowie Zusammengehörigkeit bietenden Gruppierungen, von Sekten, denen man sich restlos unterwirft, mit den bekannten, oft zu beklagenden Resultaten. Wenn Freiheit zu einem Problem wird, macht man sich aus freien Stücken eben unfrei zugunsten der Zucht und Zwangsordnung im Namen einer von einem Anführer angepriesenen Sache fast immer beliebigen gedanklichen, eben der Substanz reiner Freiheit passenden Inhalts. Damit ist die oft zu beobachtende Erscheinung wohl erklärt, wieso es im Allgemeinen keine auch nur widersinnige Sache gibt, für die sich Verfechter und Mitstreiter nicht auftreiben lassen, wobei je inhaltloser die Sache je ausgeprägter die Geschlossenheit und umso glühender der den besagten Mangel ausgleichende Eifer der Anhänger, wobei desto unerreichbarer wird die bewußte Gehaltlosigkeit umgewandelt in die Gestalt eines wohlbehüteten Mysteriums. Wenn Marx in einem Punkt Recht behielt, so wird es wohl in der Beobachtung gewesen sein, daß die Zivilgesellschaft infolge der in ihr verbrieften bürgerlichen Rechte den Samen des eigenen Untergangs in sich berge. Wenn dem so ist, so liefert uns die Stadt der Engel alles in allem reineweg bestürzend weitaus weniger als erfreuliche Botschaften des Künftigen.
Dem Drückenden des Stadtbildes hinzukommend soll ich diese Reise antreten – der Hauptgrund meines Mißmutes – in einem höchst unerfreulichen Auftrag. Ich wollte und pflichtgemäß mußte als Leumundszeuge vor einem Universitätsgericht auftreten zur Verteidigung eines meiner ehemaligen Studenten. Ein Ortswechsel, ein liebsameres Reiseziel hätte allenfalls wenig dazu gekonnt, das bevorstehende Unternehmen zu versüßen.
Ich sage unerfreulich, weil ich von vornherein wußte, daß der Fall aussichtslos war. Der Student, dessen Leistung, Fähigkeiten und guten Charakter ich zu bescheinigen aufgerufen werden sollte, hat wahrscheinlich nichts weiter verbrochen als nach seinem Abgang bei uns weiterhin eine überdurchschnittliche Leistung zu erbringen. Mit Schiller zu reden, ist es vergebens nicht nur mit der Dummheit zu kämpfen, wohl aber auch mit jeder Art wesensbehafteter Unzulänglichkeit, in diesem Fall mit ungezügelt überbordend empfindlicher Eitelkeit. Hier leistet Nietzsche Schiller nicht wenig Schützenhilfe: “... daß jeder Mann so viel Eitelkeit hat, als ihm an Verstande fehlt”. Ging es da zu nach dem die Wirklichkeit entstellenden Prinzip: Eitelkeit macht dumm, und noch mehr Eitelkeit macht bei gesteigertem Realitätsverlust störrisch–dämlich? Die Antwort sei für jetzt dahingestellt. Was fest bleibt, ist, wie ein Student sich zu gehaben habe. Denn Regel Nummer eins für jeden Studenten im Universitätsbetrieb, vor allem in den schwammigen Geisteswissenschaften lautet schlicht und einfach, stelle deinen Doktorvater nie und auf keinerlei Weise in den Schatten, stimme allen Ansichten, zumal politischen zu, bringe ihn bzw. sie nie auch nur entfernt in Verlegenheit oder in sonstige das herrliche, mühsam konstruierte Selbsterscheinungsbild zersetzende Schwulitäten. Um dafür zu sorgen, daß das heikle Professor–Doktorand–Verhältnis reibungslos abliefe, müßte das Kunststück erbracht werden, daß man überzeugend scharwenzele, das heißt, daß man sich nun einmal uneingeschränkt dienstbeflissen dem Professor gegenüber gibt und dabei unverschämt natürlich wirke. Es ist nicht klar, ob oder inwiefern der Student sich tatsächlich hat etwas zuschulden kommen lassen, es kommt nun einmal auf den (eingebildeten?) Eindruck an, der peinlichst gepflegt werden will. Die Folge der Mißachtung oder etwa der unumsichtigen Nicht–Strengbefolgung dieser Regel war, daß unserem Studenten finanzielle Unterstützung entzogen wurde, die Benotung seiner Arbeit postwendend in den Keller fiel, und daß er ansonsten nach Strich und Faden schikaniert wurde, was zu einer formellen Klage führte, was wiederum, doch absehbar, Repressalien, eine massive, zuweilen gar unflätige Verleumdungskampagne gegen den Studenten nach sich zog.
Der Student tat mir leid, aber die Professoren boten einen noch traurigeren Anblick. Da haben gar Professoren, die sich bis aufs Blut gehaßt und seit Jahren kein Wort mehr miteinander gewechselt hatten, zu der restlosen Wiederherstellung einer nach allen Seiten fest abgedichteten Eintracht in der (Deutsch)Abteilung gefunden. Gegenseitige Bewunderung gar feierte fröhliche Urständ. Es ist schon erstaunlich wie schnell und gründlich, sich langjähriger, vorgeblich auf Prinzipien fußender Groll und Mißmut ablegen läßt, wenn nun einmal gewittert wird, daß auch nur die geringste, das ist, die Pfründe nicht einmal gefährdende Bedrohung von außerhalb im Anzug sei. Daß es soweit kommen würde, war dem Studenten wohl bewußt, denn die Abteilung setzte sich durch die Bank aus kleinbürgerlichen europäischen Strebern zusammen, die nach ihrer Ankunft in Amerika ihr der amerikanischen Kultur vermeintlich überlegenes Europäertum vorschiebend rechthaberisch und machtbewußt auftretend sowie eine merkwürdige biologische Wandlung durchmachend ungeheuer große Ellbogen entwickelten. Bewußte Überlegenheit äußerte sich zumeist darin, daß man gegen Spießer wetterte – leider gibt es nichts Spießbürgerlicheres und Verspießerteres als einen Deutschen, der eben dies zum Lebensinhalt macht. Es ist den meisten vernünftigen Leuten wohlbekannt, daß jeder Anlauf auf Vergangenheits- und Abkunftsverleugnung, wie die Amis es formulieren, eine Übung in Vergeblichkeit, wie die Deutschen, verlorene Liebesmüh’ ist, nur ihnen, den lieben und gescheiten Herren Professoren ist diese fundamentale Erkenntnis entgangen. Tu, was man will, eine klein angelegte Herkunft läßt, wenn man groß auftreten will, unverkennbare Spuren an Geschmacksirrungen und Ressentiments zurück, die nicht verwischt noch verheimlicht werden können. Ich habe meinen Militärdienst bei den Amis geleistet, wo es so zutreffend hieß: “You can’t shine shit”, in diesem Fall nicht einmal mit Doktortiteln. Allesamt unangenehmes Gesindel waren diese mit Doktor– und Professortiteln ausgeschmückten Hanswürstchen, deren Mangel an wahrer Erziehung, geschweige denn ihr unangemessenes Auftreten ihrer Bereitschaft, sich unehrlich verbohrt und dummdreist zu Durchsetzungszwecken anzustellen, keinen Abbruch tat. Hauptsache ist, daß man gewinnt, koste es, was es wolle, auch wenn man sich dabei bodenlos blamiert. Es wird gesagt, daß Dankbarkeit keine politische Kategorie sei, aber wenn die nur lose mit Professor zu Titulierenden sich überlegten, daß Amerika sie vor einer Karriere als Volkschullehrer, der zwar ein ehrenhafter Beruf ist, aber damit läßt sich leider in des Strebers Sinne kein Staat machen, bewahrt hat, hätten sie das Einsehen gewinnen können, daß diesem Land auf angebrachtere Weise zu vergelten war, als ausgerechnet hier, der Ort, dem sie soviel zu verdanken haben, solch peinlich, meinen Beruf in Verruf bringenden, übelriechenden Mist zu bauen. Anderes war aber eigentlich nicht zu erwarten, denn: “Pöbel hört nicht auf, Pöbel zu sein, und wenn Sonne und Mond sich wandeln.” Die vorliegende Sache war Schillers Sinn fürs Dramatische in diesem Fall gleichwohl aufgrund der mitspielenden zwerghaften Gestalten nicht gewachsen. Denn auch unter dem Pöbel treten nicht selten gewisse Tugenden zutage – jeder Mensch, der viel herumgekommen ist, kann da mit Beispielen von Mut, Großmut und Großzügigkeit aufwarten. Und das ist genau, was den in Frage kommenden akademischen Windbeuteln vorzuwerfen war: Sie waren darauf und daran, bar jeglichen Einsatzes von Tugend den Sieg davon zu tragen. Im Gegenteil: da sollte eine ausgesprochene Neigung zu Untugenden in der Form von heimlichen Absprachen, Klüngeleien und Kungeleien zur vollen Geltung kommen. Auch die kleinstdosierte Tugend kann hierbei einem durchaus in die Quere kommen.
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