Die Stimmung, die in der Halle herrschte erstreckte sich von Gleichgültigkeit, über mildes Interesse bis hin vereinzelterweise zur hellen Aufregung. Eine Frau am Schalter stritt heftig mit einem Angestellten laut verkündend, sie denke nicht daran, nach Los Angeles zu fliegen und wolle ihr Geld zurückerstattet. Mit Ausnahme von ein paar ähnlichen Vorfällen unterlag alledem ein gewohnter oder gar blasierter Verlauf der Dinge, der in den Rahmen einer in Granit eingemeißelten, seit Menschengedenken vorgeschriebenen Tagesordnung fiel. Ich habe mich immer darüber gewundert, wie Leute nach Pest und Krieg, Naturkatastrophen und unsäglichen Tragödien in der Lage waren, einfach weiterzumachen und sich angesichts des geschehenen oder noch geschehenden Unheils unwahrscheinlich unbekümmert um nichtig anmutende Dinge kümmerten. Ich konnte nie entscheiden, ob es selige Stumpfheit und mangelndes Einbildungsvermögen oder doch Heldenkraft und überlegter Mut gewesen sein mag, die die das Leben erhaltende Einstellung zuließ. Die Gewährleistung für die Fortführung des Lebens war wohl immer und ist noch das Ergebnis eines verblüffend unaufhaltsamen Lebensdrangs, der sich offenkundig außerhalb des Bereiches des Sinnvollen bewegte und geltend machte und anscheinend nie sonderlich einer Rechtfertigung bedurfte. Das Leben und seine Grundfeste bloß als Gewohnheitssache anzusehen ist keine inspirierende oder trostspendende Betrachtungsweise der Dinge. Wenn man es bedenkt, ist es eigentlich schon eine ebenso beunruhigende Vorstellung, von derlei blinden Kräften unwillentlich ratlos getragen zu werden, genauso wie auch die Erkenntnis, etwa einer höheren nun einmal nicht blinder Macht ausgeliefert zu sein, die das Leiden zu einer dem Menschen verborgenen Sinngestaltung erfunden haben soll. Es ist alles sehr schlimm, aber kein Anlaß zur Sorge, denn die Dinge sind viel schlimmer, als sie zunächst scheinen. Und die allerschlimmsten sind unsichtbar, sich dort befinden und zutragen, wo sich nichts machen läßt, also eben ein starker Anlaß zur Gelassenheit.
Was die Endfragen anbetrifft, ich habe einen Freund in der Philosophieabteilung, der meint, man sei von drei Möglichkeiten umzingelt, und die seien alle drei gleich unerträglich: Gott existiert, Gott existiert nicht, man weiß nicht, ob Gott existiert oder nicht. Ich für mein Teil denke, man soll sich am liebsten nicht, obwohl es wohl unvermeidlich ist, mit solchen Fragen überheben. Aber es ist meines Erachtens auch nicht wahr, daß alle drei Möglichkeiten gleich ins Gewicht fallen. Das endgültige Für oder Wider beruht auf einem vermeintlich abgeschlossenen Wissen. Das Nichtwissen andererseits läßt ungleich viel mehr Bewegung, ja Spiel durch das ganze Register der Unwissenheit hindurch zu. Zweifel und Unschlüssigkeit engen nicht ein. Hinzu: In der allgemeinen Ungewißheit der dritten Möglichkeit nehmen die kleineren Dinge, mit denen wir uns sowieso beschäftigen müssen, einen unmittelbareren handfesteren Wert ein. Damit kann man etwas anfangen. Das sind aber alle Fragen und Überlegungen, die man zumal frühmorgens lieber bleiben läßt.
Ich überlegte mir, ob ich den Flug stornieren sollte. Meine Entscheidung hing nicht davon ab, was die Behörden oder die Fluglinien dachten, die Lage schätzten und demnach handelten. Ich wußte, daß ich ein Risiko einginge, wenn ich hinflöge. Mit der Aussicht aber, die vielen Ungelegenheiten von neuem auf mich nehmen zu müssen, konnte ich mich durchaus nicht anfreunden, und das war am Ende das Entscheidende. Aber daß noch nach Los Angeles geflogen wurde, beruhigte mich nicht sonderlich. Ich würde mich immerhin von anderer Entscheidung mitreißen lassen.
Wie dem auch sei, da waren gleichwohl überlegenswerte Dinge im Spiel, die einen stutzen und wissen ließ, daß einer, der aus privilegiertem zurückgezogenem Abstand den Menschen nie gut kennt, mit dem merkwürdigen Ergebnis, daß man andauernd von anderen geführt wird durch Beispiele, die aufzeigen, wo es lang geht. Dies läßt die Schlußfolgerung zu, daß es zwei Arten von Menschen geben muß. Für meinesgleichen sieht man vor die Notwendigkeit gestellt, sich zu schätzen nach der eigenen Belastbarkeit gemessen an den Anforderungen der Welt. Bewußter, grundsätzlicher Mut ist immer im Wandel, weil Sinn, von dem er abhängt ebenfalls nicht gleichbleibend, sondern selber gebrechlich und ausweichend, schwindend und sich erneuernd in einem stets fließenden Umwandlungsverfahren begriffen ist. Man ist sich seines Mutes nie gewiß, da ist man versucht zu gucken, was andere können, was ihre Grenzen sind, und sich etwa davon inspirieren zu lassen (oder auch nicht), da wenigstens Maß nehmen und aus Stolz oder Hartnäckigkeit sich der Herausforderung stellend dem gegebenen Beispiel gewachsen zu sein, dem Ruf seiner Vorbildlichkeit nachzukommen. Wenn man sich mit der Geschichte eines jeden Landes in jedem Zeitalter näher beschäftigt, muß man früher oder später zu der Einsicht gelangen, daß das endgültige Ereignis in seiner Grausamkeit und umfassenden Sinnlosigkeit nicht gibt, das die Menschheit – zumindest durch die Bank nicht – dazu veranlassen oder zwingen kann, gleichsam die Waffen ein für alle Mal endgültig zu strecken, für alle Zeiten Schluß zu machen, die Einschätzung ihrer Lage zu revidieren, und sich zu sagen, wir machen nicht mehr mit. Man kann offensichtlich fast immer mit einem ununterdrückbaren Lebensquell rechnen, der irgendwo hervorbricht und besagte Sache, die Fortsetzung des Lebens in seiner reinsten Form in die Hand nimmt. Aber wie Sie bereits wissen, lieber Leser, ist diese Weisheit bestimmt nichts Neues unter der Sonne: “Das Menschengeschlecht ist aber ein zähes und beharrliches Ding”.
Es hat gar Völker gegeben, die trotz bewußter wüster Mißstände ihr Höchstes geleistet haben, oder besser gesagt, die ausgerechnet ihre andauernd mißliche Lage für sich arbeiten und wirken zu lassen, fertig gebracht haben. Siehe mal Perikles’ Athen. Da könnte man sogar auf die Idee verfallen, daß vortreffliche Leistungen und das durch unbeugsame eiserne Kurzsichtigkeit im Einhergang mit unverschämter, hemmungsloser Geltungsgier entstandene Leiden und Chaos nicht im umgekehrten Verhältnis zueinander stehen, sondern deren Ausdruckskraft sich einander direkt bedingen muß. Es kann sein, daß man erst von dem Chaos ergriffen, von allen guten Geistern verlassen werden muß, um sich blindlings und sorgenlos, mit vollem Einsatz auf eine Aufgabe stürzen zu können, um in ihr völlig und vorzüglich aufzugehen. Ich glaube nicht, daß die von mir getroffene Entscheidung, nicht abzusagen, unter diese heroische Rubrik fällt, aber was mich zu meinem Entschluß bewog, dem lag schon eine gewisse kühne, der breiten Menschheit eigene, unter einem bestimmten Gesichtspunkt gesunde Dosis Unbesonnenheit gar Dummheit zugrunde. Da war zumindest Bewegung. Wie mir einmal von einem Kollegen ausgiebig erläutert worden ist: Die Realität sei einzig und allein für gewiefte böse Kindsköpfe erschaffen, die nun mal auf die Durchsetzung waghalsiger unempfindlicher, sich selbst nicht ahnender Unwissenheit geeicht und getrimmt worden sind. Alles andere an Umsicht oder Bedenken zähle nun mal nichts, falle allenfalls ins Abseits.
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