„Wo bist du Maria?“
Mein Auge entdeckt hoch oben die Laterne. Ein Türmchen, oben auf die Kuppel gesetzt. Man nennt es Laterne, weil es ringsum verglast ist und alles Licht des Himmels hereinlässt. Um es in der Vierung des Kirchengebäudes zu verschwenden. Da, wo Langhaus und Querschiff sich kreuzen. Entdecke in diesem Licht auf einem Fresko der Kuppel hoch oben eine gekrönte Frau, die Maria sein könnte. Rasch in den Prospekt geguckt.
Es ist Maria, die Mutter Jesu. Maria im Zentrum des himmlischen Jerusalem. Keine der beiden, die Sara begleitete. Was sag ich denen jetzt? Sie wissen nicht, was ich jetzt weiß. Tue so als ob, rufe ihnen zu: „Hallo, kommt schnell, Maria zu sehen, die Freundin unserer Sara. Seht Maria, dort oben in der Kuppel.“ Hoffe, die Sonne blendet sie.
Vor Eifer vergaß ich, dass man in Kirchen nicht laut ruft, schon gar nicht schreit. Ein Mann im schwarzen Talar eilt auf mich zu: „Junger Mann, sind Sie bitte leise hier. Auch wenn keine Messe ist, Gott ist immer gegenwärtig, das Ewige Licht neben dem Altar erinnert daran.“ Beugt sein rechtes Knie in Richtung Rotlicht. Das just erlischt im selben Moment. Er muss ein neues einsetzen, weil es sonst nicht ewig brennt. Für die, die es glauben sollen. Nicht mitkriegen, wenn ʼs spät am Abend ersetzt wird. Jetzt müsste der Mann ein Zauberer sein: «Simsalabim» und das Licht leuchtet. Damit wir glauben, rotes Licht ist ewig. Der im schwarzen Talar aber ist nicht Goethes Zauberlehrling. Starre noch auf das rote Glas mit der erloschenen Kerze, als mich eine Frauenstimme aufschreckt: „Maria!!!“
Mariaaa, Mariaaa hallt es zurück von den Gewölben. Der Mann erschrickt, dreht sich herum, stolpert über eine Stufe direkt in die Arme der hereinstürmenden Jelena:
„Was fällt Ihnen ein, mich anzurempeln? Wer sind Sie überhaupt, uns Vorschriften zu machen? Sind Sie der Küster dieser Kirche? Oder ein Putzmann, der darauf wartet, bis alle Gäste gegangen sind. Damit Sie den Staubwedel schwingen können? Wie weit langt er überhaupt? Bis in die Kuppel hoch oben, um dieser Maria eins auszuwischen? Sparen Sie sich die Antwort.“ Zu uns:
„Was soll das Theater mit Maria? Keine der beiden hat mir geholfen. Auch euch nicht, wenn ihr ehrlich seid. Gebt es zu. Nur Sara könnte uns helfen, doch die ist lange tot. Wir müssen uns alles selbst erkämpfen. Jeder das Bisschen, was sein Leben lebenswert macht. Würde uns nicht die Liebe retten, wären wir verloren. Ich liebe Romano, den Ihr nicht mögt. Und er liebt mich. Ihr wolltet mich zwingen, den Enis zu heiraten. Doch der will mich nicht zur Frau. Weil er seine Geige liebt, wie er sagt. Soll er doch, mir aber lasst Romano. Sonst bringe ich mich um. So wahr Sara unsere Heilige ist.“
Sie scheint verwirrt, ihr Vater zischt: „Ich entmündige Dich, wenn Du den nicht heiratest“. Zeigt auf mich. Ihre Mutter versucht zu schlichten, sie zu beruhigen, nimmt sie beiseite. Sie jedoch reißt sich los uns stürmt durchs Portal ins Freie. Ich ihr nach. Erreiche sie an der Balustrade. Aus rotem Sandstein gemauertes Geländer. Hinter dem es senkrecht abstürzt. Ihr rechter Fuß schon obenauf. Oh mein Gott, sie will sich hinunterstürzen.
„Neiiin!!!“ schreie ich, so laut ich kann. Springe hinzu, packe ihren Arm, sie zurückzuhalten: „Ich werde mit Deinen Eltern reden, sie überzeugen, dass ich sowieso nicht der Richtige für Dich bin. Weil, weil, weil, weil ich schwul bin.“
Heraus ist, was ich nicht sagen wollte und doch sagte. Fühlte, es könnte sie retten. Die Eltern davon abbringen, sie mit mir zu verkuppeln.
Meine Hand an ihrem Arm schien sich gelockert zu haben, als ich das Unaussprechliche aussprach. Sie spürte es, reißt sich los und springt hinunter in die Tiefe. Schau ihr nach und erschrecke. Kein Strauch bremst ihren Sturz, kein Ast hält sie auf. Sie fällt auf eine Felsplatte, ich weiß nicht wieviel Meter tief. Liegt dort wie tot. Ein zufällig vorbeikommender Arzt stellt fest: Genick gebrochen. Ob es den Eltern das Herz gebrochen, bezweifele ich. Jelena war immer schon sehr eigenwillig. Sechs Geschwister werden sie über den Tod der Schwester hinweg trösten. Vielleicht auch nicht. Mir lässt es keine Ruhe. Fühle mich schuldig an ihrem Tod. Und wieder nicht. Oder doch? Sündigt nicht jeder, der nur an sich selber denkt?
Meine Eltern wollten ursprünglich in Wien bleiben. In der Hauptstadt des Landes sollen viele Kulturen ein Zuhause haben. Tun und lassen können, was ihrer Art entspricht. Immer schon spielten Zigeunerkapellen in Restaurants. Seit Johann Straußʼ «Zigeunerbaron» sogar auf Straßen und Plätzen. Im Opernhaus «Carmen» mit Maria Olszewska als faszinierende Zigeunerin dreißigmal aufgeführt. Arabische Glasbläser, Kupferschmiede, afrikanische Trommler. Chinesen mit Garküchen, buddhistische Mönche lehren zu meditieren. Weiß Gott eine durchmischte Gesellschaft. Der Krieg vorbei, getanzt wurde und nicht geschossen.
Dann aber verlockte es sie, doch weiter nach Bayern zu fahren. Weil dort Roma und andere Einwanderer problemlos eine Aufenthaltsgenehmigung bekämen. Unsere Wege trennen sich in Burghausen. Meine Eltern fahren weiter nach München. Ich will nach Salzburg. Nicht wie zuerst gedacht nach München, Nürnberg oder Augsburg. Dort werde ich am «Mozarteum» studieren. Hatte in einem Studienhelfer gelesen, es sei die berühmteste Musik- und Theaterschule der Welt.
Da, wo Mozart, Beethoven, Brahms und Richard Strauss ihre Stücke uraufgeführt, selber gespielt oder dirigiert. Seit 1920 finden hier internationale Festspiele statt. Mit berühmten Orchestern und Dirigenten, Schauspielern und Sängern aus aller Welt. So nah kann ich meiner Kunst nirgends sein. Die Chance haben, einer der besten zu werden. Gleich am ersten Tag werde ich das «Mozarteum» aufsuchen und mich vorstellen.
Nun steh ich hier, allein. Die letzten Häuser Burghausens hinter mir. Auf meinem Rücken lastet ein schwerer Rucksack. Hängt und zieht nach unten, als wollte er mich daran hindern zu gehen. Zu entfernen von allem, was war. Gewohnt mit Eltern und Freunden zu leben. Jetzt bin ich auf mich allein angewiesen. Der Rucksack drückt mit fünf, sechs Kilo Sonntagshemd und -Hose, Wäsche, ein Paar Ersatzschuhe und jede Menge Bücher. Die Geige im hölzernen Kasten an meiner linken Hand schweigt. Die Rechte beginnt mit dem Stock die Zahl der Schritte zu zählen. Zu wandern wie Handwerksgesellen, die Beinmuskeln zu stärken. In anderen Ländern lernen, wie man Gelerntes noch besser machen kann. Muss auf Schusters Rappen – so heißt es – unterwegs sein. Zu Fuß gehen und nicht gefahren werden wie bisher auf langen Strecken.
Wieviel Kilometer es sind, weiß ich nicht. Eine Tagesreise oder zwei, drei, eine ganze Woche? Oder mehr? Keine Ahnung. Wir hatten uns lange umarmt beim Abschied. Fest an seine Brust drückte mich Papa. Mama streichelte meine Wange, als ich ihr in die Augen sah. Ihr aufmunterndes Lächeln zu sehen wie früher. Bevor ich zu spielen ging. Ernst sah sie mich an. Wischte die Tränen mit dem Handrücken weg. „Bež dureste“, pass auf Dich auf. Wir trennten uns zum ersten Mal für lange Zeit. Keiner wusste, ob und wann wir uns wiedersehen werden. Die Zukunft ungewiss, trotz besserer Aussichten als je zuvor.
Doch das Schicksal ist unberechenbar. Schlägt zu, habe ich erfahren. Verachtet, verjagt, weil wir Roma sind. Es kann doch kein Gott sein, der uns straft. Er wäre nicht gleichzeitig ein gütiger. Der Teufel nicht, denn Teufel versprechen viel und halten nichts. Warum bloß mag uns kein Mensch?
Wir haben einen Kopf wie sie, mit einem Hirn zu denken.
Augen zu sehen. Nase zu riechen, einen Mund im Gesicht, zu reden, zu essen, zu trinken. Alles wie sie. Ohren, um zu hören. Arme mit Händen, die arbeiten und streicheln können. Zehn Finger, die alle brauchen, um sich das Maul zu stopfen oder ein Instrument zu spielen. Beine mit Füßen, die gehen und springen können. Auch über Grenzzäune, ließen sie uns. Warum also um Gottes Willen sind es die Roma nur, die anders sind? Ausgestoßen aus der Welt der Menschen? Es können doch nicht ein paar kriminelle Roma der Grund sein, ein ganzes Volk zu verachten. So wenig wie ein Lügner alle Christen zu Lügnern macht.
Читать дальше