Schön sieht sie aus. Schöner als im Amt. Das blonde Haar wieder eine Frisur. Ihr Gesicht leicht gerötet, duftet nach Veilchen oder sowas Ähnlichem. Ihre Lippen rot geschminkt wie Klatschmohn. Lächelt: „Ich bin Ihnen entgegengefahren, dachte, er findet das Café nicht. Die Trifoldinger Straße ist ja auch sehr lang. Das Café Zimbel ganz am Ende das letzte Haus. Hinter der Mauer mit der Nummer 120.“
Lieb von ihr, denke ich, möchte am liebsten ihre rechte Wange küssen. So wie mich Mama küsste. Wenn ich eilte, ihr beim Aufhängen der Wäsche zu helfen. Soll ich, soll ich nicht? Wie wird sie reagieren? Mich ohrfeigen? Überlege und weiß nicht weiter. Atme tief ein, allen Mut zusammen, drehe mich nach links, da ruckt ʼs und der Wagen hält.
„Endstation, aussteigen bitte“.
Steigt aus, kommt zu mir und legt ihren Arm über meine Schulter. Fühle mich von tausend duftenden Veilchen umarmt. Das Weiß ihres weichen Wollmantels streift meine Hüfte. Ihre wiegenden Schritte nehmen mich mit. Schwebe die Stufen zum Altar hinauf. Das Ja zu hören von der Frau an meiner Seite. „Vorsicht Stufen!“
Traum geplatzt, vier Stufen realer Anlass, um in den ersten Raum zu stolpern. „Dies ist das Café mit Tischen und Stühlen“, sagt eine Stimme, die ich kenne. Aber wie sie heißt, weiß ich nicht. Ich möchte Sie gerne mit Namen anreden nicht immer nur Fräulein, sehr verehrtes, gnädiges, hoch geschätztes Fräulein, wie es Österreicher lieben.
„Ich bin der Enis, das wissen Sie ja. Jetzt möchte ich gerne auch Ihren Namen kennen. Wie heißen Sie.“
Gespannt schau ich auf ihre Lippen. Werden sie sich bewegen? Öffnen, um einen Namen herauszulassen? Einen so wunderschönen, den ich nie mehr vergessen werde. Aus klatschmohnroten Lippen kann nur „Jelena.“
In meinen Ohren knallt Jelena wie ein Peitschenhieb. Wie kann das sein? Jelena nahm sich das Leben. Jelena sieht anders aus. Oder ist sie wieder auferstanden? Eine andere geworden, um mich zu necken? In meinem Kopf wirbeln die Gedanken und kommen zu dem Schluss: Sie kann nur eine Rômni sein. Und zufällig Jelena heißen. Das ist ʼs. Es wird noch viele Jelenas geben. Bloß wie reagiere ich jetzt?
Muss ziemlich ein dummes Gesicht gemacht haben. Versuche zu lächeln. Da fasst eine feste Hand meinen Arm:
„Komm mit, ich erkläre Dir alles“. Schleift mich mehr als ich gehe in einen kleinen Raum, schließt die Tür. Drückt mich auf ein breites Sofa, setzt sich neben mich.
Vor uns ein niedriger Tisch mit einem glänzend schwarz lackierten Tablett. Vergoldet Rand und dekoratives Blattwerk. Darauf zwei Kelchgläser auf langem Stiel. Im silbernen Eimer eine dicke Flasche, die sich zum Hals hin verjüngt. Umgeben von Eisbrocken. Es ist doch Sommer jetzt. Wie kommen sie an Eis? Fragen über Fragen. Die Wände aus rotem Stoff? Warum nicht weiß gestrichen wie im Café? Die riesigen Kissen auf dem Sofa? Alles ist weich, fühlt sich weich an. Schmecke weich auf der Zunge. Im diffusen Lampenlicht werden meine Knie weich. Es kommt mir vor, als träumte ich und alles ist nicht wahr. Hätte ich meine Geige nicht im Heuschober gelassen, würde ich jetzt ein sehr ausgelassenes Lied spielen. Um wieder aufzuwachen.
„Mein lieber Enis“ – lieber sagt sie, was hat sie vor? „Du ahnst sicher, auch ich bin eine von Euch. Eine Rômni, wie man bei Euch ja sagt. Schon früh verlor ich meine Eltern. Sie hatten versehentlich den Kaiserling mit Fliegenpilz verwechselt, dessen Gift sie lähmte. Das Dorf mit einem Arzt zu weit weg, sodass sie am nächsten Tag starben. Ich war zwölf und eigensinnig, hatte Champignons gegessen und überlebt. Wollte früh schon alles anders machen als Erwachsene. Essen, was ich lieber mochte. An einem Ort bleiben wie andere Kinder. Mit ihnen spielen und nicht immer wieder weiter müssen. Von Erwachsenen vorgeschrieben bekommen, wie ich tun darf oder nicht. Ich wollte so leben, dass ich mich gut fühlte. Auch wenn ich nicht wusste, was es war oder sein könnte.
Kroch in Gänse- oder Hühnerställe und aß ihre Eier roh. Auf Heuböden oder in moosigen Höhlen geschlafen, die es in allen Wäldern gibt. Fand Beeren aller Art und Pilze, die essbar sind. Ein Sammler hatte mir Unterschiede erklärt und die essbaren gezeigt. So schlug ich mich durch, irgendwo und überall. Gebettelt oder einem Bauern bei der Ernte geholfen. Roma-Lieder gesungen für ein paar Groschen. Als Sekretärin ausgeholfen. Wie hier zuletzt, Dass ich in Bayern bin, erfuhr ich erst dann.“
Ich bin beeindruckt, das schöne Mädchen eine Frau, die weiß, was sie will. Sehe sie an und bin verliebt. Spontan küsse ich ihre linke Wange. Glücklich, dass sie sich nicht wehrt. Im Gegenteil. Jelena legte ihren Arm um mich. Und wieder spüre ich das Weiche kommen. Nahe und näher und immer näher. Und dann ist das Weiche rot. Klatschmohnrot. Ihre Lippen küssen meine Lippen. Schmecke, wie Lippen schmecken. Nach immer mehr, mehr, mehr. Ich bin verliebt, denke ich. Verliebt, verliebt. Hätte ich doch meine Geige bei mir, dann spielte ich himmelhochjauchzend das Lied einer Liebe, die niemals endet.
Möchte es doch nie aufhören, dieses neue, berauschende Gefühl. Kein Traum, sondern wirklich wie das Leben. Sehe sie an und kann den Blick nicht lassen: „Ich liebe Dich Jelena.“ Da nimmt sie ihren Arm von meiner Schulter. Ganz langsam. So langsam, als wollte sie es nicht und müsste es doch. Rückt von mir ab, sodass wir uns nicht mehr berühren. Ihre Stimme klingt wie die einer anderen Frau:
„Ich bin keine Frau für Dich. Auch keine Freundin oder Begleiterin auf Deinen Reisen. Nicht Muse für den Künstler, der Du sein wirst. Ich bin eine schlechte Frau. Verachtet von denen, die mich ausnutzen. Mich selber achte ich nicht. Seitdem ich mich Männern hergebe. Verzeih, dass ich Dich küsste, es kam so über mich. Zweiundzwanzig Jahre alt bin ich. Ja, Du hast richtig gehört: alt und nicht jung.“
Steht auf und legt eine schwarze Scheibe aufs Grammophon, füllt die Gläser: „Prost Enis!“ Setzt sich wieder, ohne mir näher zu kommen. Musik erst leise, dann laut und getragen, als spielte sie auf einer Prozession. Ein Blas-Instrument reißt meine Ohren auf. Tönt heller, strahlender als unser Horn: „Was ist das für ein Instrument und wer spielt es?“
„Im Begleitheft der Schallplatte steht: Louis Armstrong, ein Schwarzer, zurzeit einer der besten Trompetenspieler. Blues nennt man diese Musik. Traurig klingt sie, wenn sie am «Mardi Gras», dem letzten Faschingsdienstag, durch die Straßen New Orleans marschieren. Sehnsucht nach Heimat in Rhythmus und Melodie. So wie ich mich jetzt fühle, verachtet und heimatlos. Wie Louis und viele andere, die aus Afrika in die USA verschleppt wurden. Von Sklavenhändlern gekauft und wieder verkauft an reiche Amerikaner. Die sie für einen Hungerlohn beschäftigten. Immerhin gab man ihnen Unterkunft. Auf die Roma seit Jahrhunderten warten.“
Sieht mich an, beginnt zu singen: „Well now, baby meet me in the bottom“. Welchʼ eine Stimme. Nur drei Töne, die alles ausdrücken. Melancholie und Lebensfreude zugleich. Wunderbar. Erst aber will ich wissen, warum sie sich für eine schlechte Frau hält. Und was es heißt, sich anderen Männern herzugeben:
„Jelena, ich mag Dich sehr. Du heißt wie eine frühere Bekannte von mir, die sich selbst umbrachte. Verwirrt war ich einen Moment, als Du Deinen Namen nanntest. Doch nun zu Dir: Du bist doch Sekretärin des Bürgermeisters.“
Schon sehe ich sie wieder vor mir: Der Rock verrutscht, ihre Frisur zerzaust, nervös war sie und schnell weg.
Ob sie sich ihm hergegeben hat, um mir die Genehmigung zu verschaffen? Dann muss sie mich mögen.
„Du hast mir, schneller als ich dachte, die Aufenthaltsgenehmigung beschafft. Nur eine Stunde habe ich warten müssen. Was ist eine Stunde, gemessen am Leben eines Roma, der bleiben darf in Bayern?“
Читать дальше