Otto W. Bringer
Porcus das charakterlose Schwein
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Porcus das charakterlose Schwein
Otto W. Bringer
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„Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust“, stöhnte schon Faust in Goethes Drama. Jeder von uns ist zwiegespalten. In Gut und Böse. Helligkeit und Dunkel. Gott und Teufel. Wie sich diese Tatsache auswirkt, hängt von den Umständen ab. Die sind so unterschiedlich wie Menschen verschieden sind. Ihre Lebensbedingungen, Einflüsse von außen, Emotionen von innen und Schicksalen. Den puren Gutmenschen gibt es nicht. Den Bösen hin und wieder. Mensch ist des anderen Wolf, schreibt der römische Dichter Plautus. Ein Raubaffe, sagt Friedrich Dürrenmatt. Es muss etwas daran sein.
Schon in der Schule fiel Porkus unangenehm auf. Nicht ohne Grund gaben seine Mitschüler Fritz Schwein den lateinischen Namen Porcus . Klingt schon wie ausgekotzt. Eine neue Mode kam ihnen gerade recht, sich lateinisch anzureden. Also Porcus statt Schwein. Wie kann man nur Schwein heißen? Fragte sich mancher. Väter haben es versäumt, die Namensänderung zu beantragen. Oder wohnten seine Vorfahren in einem Lande, in dem es keine Schweine gab? Hätten aber gerne welche gehabt. Sollen lecker schmecken.
Heinrich Kleinebley nannte man ParvumPlumbum . Kurt Vogel Avis . Karl Otto Bauer Agricola . Franz Müller Molerus . Den Autor dieses Buches Portandus . Von portare bringen. Gerundium, der Bringende, wörtlich übersetzt. Alle fühlten sich mächtig stolz als gebildete Lateinschüler. Lateiner waren eine besondere Klasse Jugendlicher. Ein Club der Auserwählten gewissermaßen.
Vorspel oder Lünekichelsdorf dagegen waren die Dummen. Für sie gab es keine lateinische Vokabel. Hätten ihre Eltern gewusst, dass es eine so große Rolle spielt, hätten sie sie aufs Naturwissenschaftliche geschickt. Das Altsprachliche aber hatte einen sehr guten Ruf. Und der war wichtiger als die Marotte einiger Schüler.
Nur wenige von ihnen kamen über die Drei in Latein hinaus. Aber bei ihren lateinischen Namen blieb der Club konsequent bis zum Abitur. Noch bei ihren späteren Jahrestreffen begrüßten sie sich: „Hallo ParvumPlumbum.“ „Hallo Avis.“
Porcus petzte. Hinterrücks. Sie hätten ihn verprügelt, hätten sie es gewusst. Rätselten, wer wohl ihre geheimen Treffen mit den Mädchen des Lyceums einmal die Woche verraten hat? Sie mussten zur Strafe hundertmal schreiben: Du sollst keine kleinen Mädchen verführen. Als wäre es das elfte Gebot und sie der Beelzebub persönlich. Mädchen waren damals noch eine geschützte Kathegorie der Gattung Mensch. Im verschlossenen Schulgebäude eingekerkert. Bewacht von feuerspeienden Drachen, Studienrätinnen ihres Zeichens.
Erst in der Obersekunda erfuhren sie von Porcus´ Verrat. Die heutige Freundin Portandus´ hatte ihn damals gesehen, als er vom Ast einer Kastanie auf der Königsallee Jungen und Mädchen in einem Hauseingang beobachtete, die sich umarmten. Damals dachte sie sich nichts dabei. Als Portandus es ihr erzählte, erinnerte sie sich.
Was sollten sie tun nach so langer Zeit? Porcus verprügeln? Zur Rede stellen? Der inzwischen ein Schwergewicht mit 70 Kilo. Und Muskeln wie ein Ringer. Trainierte seit einem Jahr zweimal die Woche, als wollte er Weltmeister werden. Gegen einen solchen Kraftprotz hatten sie keine Chance. Außerdem gab es andere Probleme. Untersekunda und Obersekunda schaffen. Das Abitur vor der Nase. Da passierte wieder eine sehr schreckliche Sache.
In der Pause marschierten drei finster blickende Männer in Ledermänteln über den Schulhof. Direkt auf zwei Jungen zu, von denen alle wussten, sie waren Juden. Der Direktor hatte sie bis dahin schützen können. Schenkte ihnen neutrale Pullover ohne den gelben Judenstern. Für den Aufenthalt in der Schule. Juden waren sogenannten Ariern immer schon verdächtig, wusste der Direktor, ein Historiker. Die Geheime Staatspolizei Hitlers hatte davon Wind bekommen. Porcus das Schwein?
Sie sahen ihn in der braunen Uniform der Hitlerjugend auf die Polizei zugehen, die rechte Hand heben zum Hitlergruß, hörten ihn lauthals schreien, dass es alle hörten: „Juda verrecke!“
Niemand sonst trug in der Schule diese Uniform. Nur bei den wöchentlichen Diensten. Man hatte sie dazu verpflichtet. Sich weigern bedeutete vier Wochenenden Umerziehung in einem Hitlerjugendheim und peinlichste Verhöre der Eltern. Porcus petzte. Der Schulhof hatte plötzlich große Ohren.
Es verstand sich von selbst, dass alle sich von Porcus distanzierten. Niemand hatte Lust, seine Eltern und sich selbst zu gefährden. Wegen einer leichtsinnig geäußerten Kritik an Hitler oder einem seiner Parteigenossen. Dem Angeber Baldur von Schirach z.B., Reichsjugendführer. Oder dem Fettwanst Robert Ley, Arbeiterführer. Es schien nur noch Führer zu geben. Wo war das Volk? Der zweite Weltkrieg war im Gange. Sirenen heulten fast jeden Abend. Luftschmutzübung nannten sie es.
Abends, wenn alle Arbeiter zuhause beim Bier saßen, Zeitung lasen oder Radio hörten, die Lehrer sich von ihren Frauen zur Belohnung für ihre harte Arbeit umarmen und küssen ließen, kam für die Jungens die Stunde der Freiheit.
Karl Otto Bauer, der Agricola, besaß Schallplatten. Eine ganze Sammlung dieser schwarzen Scheiben. In deren Ritzen geheimnisvollerweise die ganze Welt zuhause war. Italien mit Benjamino Gigli, dem ewig liebeskranken Tenor. Deutschland mit Richard Tauber, dem lyrischen Tenor, der Franz Lehars Operetten zu den meistgespielten Bühnenstücken machte. Bis er als Jude ausgeschaltet wurde. Dann Amerika mit Louis Armstrong, dem Jazz-Trompeter aus New Orleans. Eine Offenbarung.
Alle die Lateiner rutschten von den Stühlen auf die Knie. Sprangen wieder auf und schwangen ihre Arme und Hüften. Schlossen ihre Augen und genossen den ihnen noch unbekannten Rhythmus wie eine Reise in unbekannte Fernen. KO Bauer wusste mehr von seinen Eltern, die Jazz-Fan waren, wie er erzählte. Schon zweimal den Mardi Gras in New Orleans gefeiert. Mit den Schwarzen durch die Straßen gezogen, die ihre Trompeten bliesen, als wäre es ihr letztes Lied. Sehnsucht ist die Grundstimmung des Jazz. Sehnsucht der ausgewanderten Afrikaner nach Irgendwohin. Ihre Heimat?
Wenn sie einmal die Woche bei Agricola Jazz hörten, kroch eine unbestimmbare Sehnsucht ins Gedärm. Von dort übers Herz, das zu zittern begann. Bis in die Ganglien ihres Gehirns. Wo sie ankerte. Und nicht mehr losließ, solange sie lebten. Jazz, ein alter Menschheitsgesang. Der Heimat verspricht. Heimat, die es nicht gibt.
Drei schwere Luftangriffe hatten sie hinter sich. Spannend. Theater, das nichts kostet, meinten die meisten der Klasse. Liefen hinaus ins Freie, wenn sie nicht die Angst fesselte ans scheinbar sichere Gemäuer eines Kellers. Die dröhnenden Geschwader am Himmel zu sehen. In den gekreuzten Fängen der Scheinwerfer waren sie gut zu erkennen. Wie Motten im Licht. Warfen Christbäume ab, die Stadt unter ihnen zu erhellen. Die Ziele, die sie treffen wollten. Bis es orgelte, pfiff und explodierte. Häuser einstürzten oder in Brand gerieten. Ängstlich hockten Eltern und Großeltern in den Kellern, Zitterten. Und hörten nicht auf zu zittern, als es längst vorbei war.
Sie waren noch nicht siebzehn, als sie das Vaterland zum Krieg rief gegen eine ganze feindlich gesonnene Welt. Im Osten den Bolschewismus, im Westen den Kapitalismus. Deutschlands Städte vor englischen und amerikanischen Fliegern zu schützen. Genauer vor ihren Bomben. Mit denen sie die Rüstungsindustrie lahm legen und wichtige Verkehrswege zerstören wollten. Dabei in Kauf nahmen die Zivilbevölkerung zu treffen. Ihre Häuser, Kirchen und Denkmäler zu zertrümmern. Unschuldige Menschen zu töten, hunderttausende bis zum endlichen Schluss. Angst hörte nicht auf. Die Pfarrer hatten viel zu tun. Mehr als jemals wieder danach.
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