Wo aber war Porcus geblieben die lange Zeit? Nicht dabei, als es zur Flak ging. Auch nicht beim nachgeholten Abi, Februar 1946. Irgendwie fehlte er ihnen. Mensch braucht einen, den er hassen kann. Man munkelte, er habe sich krankschreiben lassen im Krieg. Seine Leber sei geschädigt. Nachsichtige vermuten, dass ihm mehr als eine Laus über dieselbe gelaufen ist. Grund für sein menschenfeindliches Verhalten. Porcus wurde vom aktiven Wehrdienst befreit.
Wo also steckt er jetzt. Die Lateiner hockten zusammen beim vierten Treffen nach Friedensschluss. Alle bereits vor dem Abschlussexamen. Avis dem Dr. der Orthopädie. ParvumPlumbum als Dipl. Betriebswirt. Portandus als Dipl. Architekt und Dr. der Kunstgeschichte. Molerus hatte bereits den Brennstoffgroßhandel seines Vaters übernommen. Wie gesagt, sie hockten bei Altbier und Röggelchen. Machten sich heftige Gedanken. Über einen, der zu ihrem Leben gehörte. Auch wenn sie ihn für das Arschloch in der dritten Potenz hielten.
ParvumPlumbum meinte, er hätte ihn gesehen, wie er in die Untergrundbahn stieg. Dann aber aus den Augen verloren. Avis vermutete ihn in der DDR. Agricola konnte keine Meinung haben. Er war in den letzten Kriegstagen gefallen. Als sie dies hörten, schwiegen sie belämmert und sehr traurig. Der Mensch Karl Otto Bauer war allen sympatisch. Nicht nur, weil er sie mit dem Jazz bekannt gemacht hatte. Er hatte einen offenen Charakter. Ganz im Gegensatz zu einem Porcus von Schwein. Auf dem Schwarzmarkt gab es schwarze Scheiben mit Armstrong. Wenn man Glück hatte. Portandus hatte fies Glück, wie man so sagte. Lud alle Lateiner zu sich auf die Dachkammer im elterlichen Haus. Ein eigenes hatte er noch nicht. Und lauschten der unnachahmlichen Trompete ihres Louis. Bewegt und hingerissen zugleich.
Da geschah, mit dem niemand gerechnet hatte. Porcus rief an. Hatte sich Avis ausgesucht. Woher aber wusste er von seinem Beruf? Weil Schweine überall rumrüsseln, giftete ParvumPlumbum. Vielleicht auch weil der Orthopäde sich immer verständnisvoll gezeigt hat. Damals und sicher auch heute noch. Charakterliche Schwächen behandelt wie eine verklemmte Bandscheibe. „Du musst mir helfen“, quälte sich ein gepeinigter Porcus am anderen Ende der Leitung um die richtigen Worte. Wusste er doch, warum sie ihn hassten.
Avis überlegte, „Was mag wohl in ihn gefahren sein? Plötzlich so unterwürfig. So gar nicht hinterfotzig. Oder führt er was im Schilde? Avis gewitzt durch Porcus´ üble Petzerei, sein menschenverachtendes Verhalten, wartete, bis er ihm antwortete. Ich lass ihn jetzt zappeln, damit ihm der Arsch auf Grundeis geht. Späte Rache, sagte seine Unvernunft. Nachdenken, seine Vernunft. Wie soll es weiter gehen?
Ließ ihn kommen. Streckte ihn, dehnte Gelenke und Muskulatur, spritzte ihm ein Narkotikum ins Gesäß und empfahl: „In einer Woche wiederkommen.“ Er kam wieder. In jämmerlicher Verfassung. Straft der liebe Gott so die Sünder? Avis wurde von seiner Mutter areligiös erzogen, dachte an Gott und weiß was. Den üblichen Religionsunterricht durfte er schwänzen. Tat was er am besten konnte. Streckte ihn, dehnte seine Gelenke, die Muskulatur, spritzte ihm ein Narkotikum ins Gesäß. Hoffte, es hilft. Auch Ärzte müssen hoffen, dass sie Recht behalten mit ihrer Therapie. Porcus musste ein drittes Mal kommen.
Sie wechselten auch diesmal kein Wort während der Behandlung. Jeder von ihnen konzentriert auf das Naheliegende. Oder Entfernte. Dann Abschied ohne Händedruck: „Tschö“. „Tschö, Porcus Deine Versicherungskarte!“ Rief Avis ihm nach. Glaubte, er habe sie vergessen abzugeben. Porcus war nicht versichert. „Dieses Schwein“, fiel ihm von der Zunge. Schickte ihm eine gesalzene Rechnung.
Die Adresse hatte er ihm entlockt. Bei Verweigerung hätte er ihn nicht behandelt. Wartet auf Zahlung. Kein Geld kam auf sein Konto. Nach vier Wochen nicht, einem Vierteljahr immer noch nicht. Die dritte Mahnung kam zurück: Empfänger unbekannt.
Als er es seinen Mitschülern erzählte, frotzelte Portandus: „Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.“ Einer lachte. Es war Avis selber, der lachte. Als freute er sich über einen gelungenen Streich. Von außen betrachtet. In Wahrheit aber wurmte es ihn. Trieb ihn auf die Palme. Dahin, wo Gottes Zorn zu spüren ist. Auch bei denen, die nicht an ihn glauben. Porcus ist und bleibt ein charakterloses Schwein. „Ja, du hast Recht Portandus: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Ha, ha.“
Alles mittlerweile Vergangenheit. Ein Gemischtwarenladen wie viele nach dem Krieg. Erinnert, amüsiert und kurz nacheinander geheiratet die verbliebenen Lateiner, vier an der Zahl. Molerus die Libanesin Alyssa. Zwei von ihnen gut versorgte Töchter. Schön sehen sie auch aus, wenn man aus der Ferne auf sie blickt. Annegret, die von ParvumPlumbum, auch bei näherer Betrachtung. Ihr Vater erbte von seinem Vater eine Bank. Privatbankier stand auf seiner Visitenkarte. Bald auch auf der ParvumPlumbums. So weiß jeder, dass er Geld vor sich hat. Und verneigt sich vor seiner Gemahlin. Insgeheim wünschend sie wäre die Seine. Keiner der Lateiner denkt an Mitgift. Bei Gott nein. Nur an ihre schlanke bella Figura. Avis bleibt solo vorerst.
Portandus heiratet die Tochter eines Restaurantbesitzers. Immerhin braucht er für Essen und Trinken nichts zu bezahlen. Dem noch erfolglosen Architekt fehlte aber etwas und wusste nicht was. Als er Annegret kennenlernt, machte er ihr den Hof. Das Gemälde Alessandro Botticellis im Kopf mit dem hinreißend gemalten Frühling. Scharwenzelt um sie herum, blickt ihr tief in die himmelblauen Augen. Hofft auf zustimmendes Nicken. Weiß aber gleichzeitig ich darf es nicht. Ich bin verheiratet. Sie ist ParvumPlumbums Frau. Seine Geliebte. Respektiert hatten sie immer das, was anderen gehörte. Plötzlich wie ein Blitz die Frage: Gehört Frau ihrem Mann? Wie man eine Bank besitzt oder ein Haus, ein Klavier? Kommt zu dem Ergebnis, Frau gehört nur sich selber. Lange bevor Alice Schwarzer es formulierte.
Entscheidet, wen sie lieben kann. Den, der ihr schöne Augen macht. Eine Dose Pralinen schenkt. Ein Paket Aktien. Gar eine Rose. Eine einzelne mit Tautropfen auf den Blättern. Ewiges Symbol der Liebe. Sagt, was sich denken, aber nicht aussprechen lässt. Worte berühren nur den Rand der Dinge. Diese frühe Erkenntnis enthebt Portandus der Entscheidung, auf der Stelle und sofort zu handeln. Wartet auf eine günstige Gelegenheit. Sie kommt schneller als er dachte.
ParvumPlumbum veranstaltet in seinem Garten eine Sommerparty. Das komfortable Haus hatte sein Schwiegervater ihnen zur Hochzeit geschenkt. Wollen diese Tatsache feiern. Am meisten beeindruckt sie das geräumige Bad. Dusche mit acht verschiedenen Düsen. Wasser nach Hebelstellung kalt, warm oder heiß. Gesprenkelt, gespritzt, geschüttet, gezielt gestrahlt von Kopf bis Fuß. Kräftig oder im sanften Brauseregen. Das blanke Sieb am Boden schluckt gurgelnd das seifenschaumige Nass.
Zweite Überraschung der Kamin. Wie ein Turm ragt er vom Marmorboden bis zur Decke. Eine gerundete Nische über der Öffnung mit farbigen Gläsern. Die sie aus Glasbläsereien Muranos oder Cas Concas auf Mallorca mitbrachten. Wunderschöne Rememberings.
Als sie den Raum betreten, flackert bereits das Holz im großen Feuerloch. Es liegt auf dem üblichen Gitter aus Eisenstangen. Nur hebt das Gitter keine Eisenkonstruktion auf Distanz zum Boden, damit Luft von unten die Flammen hellauf lodern lässt. Sondern Soldaten der Garde National. Napoleon III. private Leibwache. Sie hatten das Unikum aus Eisenguss auf ihrem Urlaub bei einem Antiquaire gesehen und spontan gekauft. Präzis in Saulieu, Burgund. Portandus wurde richtig neidisch. Hatte er doch ähnliche Vorstellungen von einem Kamin. Und einer schönen Frau auf dem Bärenfell vor lodernden Flammen. Den Champagnerkelch in der rechten Hand. Ihre linke winkt: komm.
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