Otto W. Bringer - Adieu

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Jeder weiß, dass Abschied nehmen zum Leben gehört. Sich trennen müssen von dem, was wir lieben, gewohnt sind. Wir verdrängen den Gedanken daran, aber es hilft uns nicht. Leben heißt sich verändern. Kommen und gehen wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Wachsen und reifen und sterben. Sonst wäre es nicht lebendig, sondern tot. In 38 Kurzgeschichten erzählt der Autor, wie er selbst und viele andere dieses ständige Abschiednehmen erlebten. Besser gesagt überlebten. Jedes Mal tieftraurig danach, gefasst oder reifer geworden in Einsicht und Charakter. Er selbst als Sechsjähriger die Mutter verloren. Bis über beide Ohren verliebter Student. Als Mann mit fünf Frauen. Zweimal verheiratet. Beide Frauen tot. Vater von drei Töchtern. Als Autofahrer, Mieter und Besitzer von Haus und Hund. Andere müssen sich verabschieden, weil sie nicht mehr tanzen, nicht auf Berge klettern, keine Zahlen merken, die Welt nicht verbessern können. Nicht da bleiben, wo sie ihr ganzes Leben verbrachten.

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Otto W. Bringer

„Adieu“

Imprint

Adieu

Otto W. Bringer

Published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.deISBN 978-3-7418-1389-4

E-Book Konvertierung:

sabine abels www.e-book-erstellung.de

Nichts bleibt – und lieben wir es noch so sehr.

Das schöne Mädchen Ruth.

Endlich blühte der Kirschbaum.

Meine fünf Frauen.

Schornstein muss rauchen den ganzen Tag.

Weiß ist die Kunst.

Ohne Geld, Ausweis, Führerschein und Kreditkarte.

Kinderkram?

Mama auf einmal nicht mehr da.

Das neue Auto wie ein Pfeil.

Ein Tresor, der nichts für sich behielt.

Endlich ein eigenes Haus.

Eine halbe Stunde – und kein Mann mehr.

Kennzeichen Cardinalrot.

Höhenflüge ab sofort verboten.

Mit den Jahren verlor ich meinen Bariton.

Für dieses Auto brauche ich einen Führerschein.

Die Geschichte ausgelöscht.

Mut muss man schon haben.

Wilde Ente schickte mich zum Ohrenarzt.

Seelenamt für Bonny.

Süßkram ist ja so verführerisch.

Jetzt ist Schluss mit Lustig.

Mein Lieblingsbänkchen.

Jeder will der erste sein.

Wie mir der liebe Gott abhanden kam.

Tanzen bis zum Umfallen.

Wie hieß nochmal…?

Ein kluges Köpfchen.

Ohne Kumpel ist Fritz einsam.

Ein kleines, rosa funkelndes Steinchen.

Es war einmal ein Rhabarberkuchen.

Eines ist sicher.

Das krumme Gässchen.

Zwischen den Fronten.

Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder?

Das rechte Wort zur rechten Zeit.

Immer mit der Ruhe.

Weiß ich wer ich bin?

Das schöne Mädchen Ruth.

Die erste Freundin verlor ich, bevor ich sie richtig besaß. Lernte sie im Schwimmbad an der Grünstraße kennen. Von Kennenlernen aber noch lange keine Rede. Sehen trifft es genauer. Und wollen. Sie war eine Schönheit, wie sie nur junge Mädchen besitzen. Ein bisschen ungelenk noch. Aber von einer natürlichen Anmut, die mich sofort faszinierte. Ich muss wissen, wie ihr Name ist. Will sie ansprechen können. Träumen von einer Eva oder Rosamunde. Ihr ein Gedicht schreiben. Straße und Hausnummer muss ich auch noch wissen. Ich folgte ihr auf Schritt und Tritt.

Nicht ganz einfach, unbemerkt zu bleiben. Einmal nach dem Schwimmbad trödelte sie mit ihren Freundinnen in Richtung Kö. Verlor sie aus dem Blick, als es spannend wurde. Die Freundinnen, hallo, verabschiedeten sich. Sie allein im Gedränge des sonnigen Samstagnachmittags untergetaucht. Da war sie wieder. Soll ich ihr das Gedicht mit der Post schicken? Quatsch. Geht nicht. Ohne Namen und Adresse kommt nichts an.

Außerdem könnte sie Ärger bekommen mit ihren Eltern. Sie mag vielleicht fünfzehn sein. Ich bin achtzehneinviertel. Sie noch nicht mündig. Ich theoretisch auch nicht. Aber erwachsen geworden als Soldat. Gerade aus englischer Gefangenschaft entlassen. Hungrig nach Schönheit und Liebe. Nach all dem Krachen, Morden, und der ständigen Angst, mein Leben zu verlieren, bevor ich es gelebt hatte. Also ins Schwimmbad. Einzige Chance, sie wiederzusehen. Samstagnachmittag wie beim ersten Mal.

Fuhr jeden Samstag zum Schwimmen. Ließ sich auch einrichten, weil ich Wochenende nur bis zwölf Uhr arbeiten musste. Volontierte in einem Architekturbüro. Um später die Kunstakademie zu absolvieren. Der erste Samstag ergebnislos. Aushalten, hoffen, sagte ich mir. Wie im Bombenhagel.

Am dritten Samstag sah ich sie wieder. Von der Galerie aus gut zu identifizieren. Porzellanblass ihre Haut. Knappschwarzer Badeanzug, der Arme und Beine noch schlanker erscheinen ließ. Lange braunkohlendunkle Haare. Sprang ins aufspritzende Wasser. Hörte einen Schrei. Ihre Stimme? Sah sie zügig das Becken durchqueren. Ich lief die Treppe hinunter. Drängte mich durch das Getümmel vor den Kabinen, sprang hinein ins drangvolle Becken. Mittenmang, ohne Rücksicht auf irgendwen. Hoffte, die Richtung stimmt. Tauchte unter, wieder auf. Hinter ihr. Noch ein Zug, ein zweiter, umrundete sie, tauchte unter, wieder auf, prustete.

Sah in ein lachendes Gesicht. Das nasse Haar an Kopf und Nacken glatt anliegend. Schön wie eine Skulptur von Brâncusi. Sah, wie sich aus dem Oval eine kleine gebogene Nase abhob. Und weiter oben über dunklen Augen zwei kräftige Augenbrauen den Anfang einer hübschen Stirn definierten. „Hahallooo, aufgepasst!“ rief sie und lachte, als meinte sie es nicht ernst. Drehte sich zur Treppe. Wieder um und lachte. Sah gleichmäßige Zähne zwischen roten Lippen. Möchte sie küssen. Langsam mit den wilden Pferden, mahnte meine Oma, wenn ich etwas sofort haben wollte. Aber ich wollte. Stieg die Leiter hoch, suchte nach einem Wort. Rasch, bevor sie wieder verschwand.

Sie war stehen geblieben. Als wartete sie auf jemanden. Mich? Schüttelte ihr langes Haar, dass es flog rechts, links und wieder herunter. Jetzt sah ich, es war wirklich lang. Lang bis dahin, wo die Wirbelsäule endet. Busen, Taille und Po unter dem eng anliegenden, tropfnassen Tuch ihres schwarzen Badeanzuges zeigten Formen, dass mir fast schwindelig wurde. Was für ein Weib. So jung und schon so schön. Besser nicht dran denken, dachte ich. Und dachte es doch.

Eine samtene Stimme, wie ein Cello: „Gehen Sie jeden Samstag schwimmen?“ War sie mir doch zuvorgekommen. „Ja, es ist schön hier und mit drei Becken groß genug für Wasserratten, die nicht arbeiten müssen. Haben Sie auch Samstagnachmittag frei?“ „Ich gehe noch zur Schule, Untersekunda. Und Sie, was machen Sie?“ „Bereite mein Studium vor, will Architekt werden.“ „Schöner Beruf, möchte ich auch, wenn ich ein Mann wäre.“ „Da bin ich anderer Meinung. Darüber sollten wir ausführlich sprechen. Ich schlage vor, wir treffen uns in einer halben Stunde im „Café Bittner.“ Einverstanden?“ „Einverstanden.“ So, das hatte geklappt.

War gespannt, ob sie kommt. Rannte zum „Café Bittner“, wollte sie unter keinen Umständen verpassen, die Hundertmeterläuferin. Sportlich wie sie aussieht. Ich wartete vor der Tür. Wartete. Eine Viertelstunde verging. Wird wohl nichts, dachte ich enttäuscht. Da lief sie auf mich zu: „Entschuldigen Sie, ich musste meiner Mutter noch den Wäschekorb in die vierte Etage tragen.“

Donnerwetter, dachte ich, sagte laut: „Lieb von Ihnen. Wir haben´s leichter, nur acht Stufen bis in unsere Wohnung. Gehen wir?“ Wir gingen, vorbei an Theken, vor denen Frauen sich zu Massen stauten. Gestikulierten, schwadronierten, was möchtest Du? Mit Sahne oder lieber nicht? Kaffee oder Tee? Der Eiskaffee hier schmeckt köstlich. Der beste der Stadt.

Wir finden einen Fensterplatz. Einigten uns auf Fruchtbecher mit Sahne. Blicken hinaus auf die Kö. Den Autoverkehr. Sah einen Mercedes mit geöffnetem Verdeck. Meist aber buckelige Fords, Käfer mit geteiltem Rückfenster. Verbeulte DKWs. Opel. Einen Chevrolet, wahrscheinlich ein Besatzungsoffizier. Den Magirusbus, Kriegsveteran von Herfurtner, bei dem ich schaffnern will in den Semesterferien. Erinnerte eine Probefahrt mit der Kiste. Sie ratterte, brummte, knallte und puffte. Schrillte die Hupe, wenn sie andere überholte. In den rosaweichen Plüschwolken der ersten Etage des Cafés hörte man nichts. Die Welt draußen wie ausgeschaltet.

Nur das Gemurmel der Gäste wie ein Vorhang, hinter dem ich jetzt mein Solo vorbereitete. „Wie schmeckt Ihnen das Eis?“ „Gut.“ Sie sah mich an, als wollte sie herausfinden, was ich wirklich fragen wollte. Kam ihr zuvor: „Bevor wir über den Beruf des Architekten reden, sagen Sie mir bitte wie Sie heißen?“ „Ruth“ die kurze Antwort. „Ich bin der Otto, Otto Bringer.“ „Ruth André. Mein Onkel ist auch Architekt in Münster. Alle sagen, es ist nur ein Beruf für Männer. Frauen hätten keine Chancen, weil das Praktikum mit den rauen Kerlen am Bau zu gefährlich wäre für sie.“

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