Nach und nach kristallisierten sich zwei Positionen heraus. Es waren allerdings Positionen, die vorhersehbar gewesen waren. Die einen befürworteten die Entscheidung des Rates, und die anderen beharrten auf ihr individuelles Recht auf eigene Gedanken und Meinungen – ohne Geisteskontrolle. Jetzt musste sich nur zeigen, welche Gruppe sich durchsetzen würde.
Es vergingen Stunden, bis es zur Abstimmung kam. Das Ergebnis war nicht ganz so knapp, wie der oberste Rat befürchtet hatte. Von den vierzig anwesenden Magiern stimmten sechsundzwanzig für den Rat. Zwei enthielten sich, womit dann immer noch zwölf gegen den Rat stimmten. Der Rat ließ sich nichts anmerken, aber innerlich waren alle acht Räte entsetzt, hieß dieses Abstimmungsergebnis doch, dass etwa ein Drittel der Magier sich nicht mehr mit den Prinzipien des Magierzirkels identifizierte. Ein wahrhaft niederschmetterndes Ergebnis.
Doch die Mehrheit hatte entschieden und das aufkommende Murren wurde von den Beifallsbekundungen erstickt.
Rumex stand auf. In seinem Gesicht war nichts von seinem Entsetzen zu lesen.
„Ihr habt entschieden und so soll es geschehen. – Morgen werden wir kundgeben, wann die Befragungen beginnen.“
Die Versammlung löste sich langsam auf. Zurück blieben die oberen Räte und suchten die geistige Vereinigung. Es gab noch vieles zu überdenken.
Die Ratsentscheidung hatte genau das erbracht, was Meister Sicyos befürchtet hatte. Die Geistesbefragung würde durchgeführt werden.
Nur zögernd hatte Sicyos selbst dagegen gestimmt, in dem vollen Bewusstsein, dass damit seine Linientreue in Frage gestellt war. Doch er gestand sich von vornherein ein, dass ihm niemand diese Linientreue abnehmen würde. Erst recht nicht die Kollegen mit denen er ab und zu Dispute über Recht und Macht der Magier im Machtgefüge Ruans geführt hatte.
Auf die Mehrheit konnte er also nicht hoffen, doch das hatte er niemals ernsthaft in Erwägung gezogen. Eine offene Konfrontation kam auch nicht in Frage, dazu war der Rat einfach zu stark. Blieb also nur die Möglichkeit der Intrige, etwas worauf er schon jahrelang hingewirkt hatte.
Der Rat hatte beschlossen und damit einen Krieg eröffnet. Und er – Meister Sicyos – war gewillt, diesen Krieg zu gewinnen. Koste es was es wolle.
Fürstin Salde schreckte hoch und lauschte in die Nacht hinein. Irgendetwas hatte sie geweckt, aber was? Nur das Schnarchen Fürst Podons drang an ihr Ohr sowie die üblichen nächtlichen Burggeräusche.
Leise wälzte sie ihren schweren Leib zur Seite und stemmte sich auf die Füße. Ihre Hände ruhten zärtlich auf dem geschwollenen Bauch. Dies würde ihr Zweitgeborenes werden. Vielleicht war es dieses Mal ein Mädchen. Das Ungeborene war jedenfalls quicklebendig, und Salde wurde häufig von plötzlichen Tritten und Stößen überrascht. Vielleicht war dies auch der Grund für ihr Erwachen gewesen.
Auf Zehenspitzen betrat sie den Nebenraum und ging zu dem kleinen Bettchen, das in einer Wandnische stand. Liebevoll betrachtete sie den blonden Schopf ihres kleinen Sohnes, der unter der Bettdecke hervorlugte. Er war erst zwei Jahre alt, zeigte aber schon jetzt die gleiche Dickköpfigkeit wie sein Vater.
Salde brachte ihren Körper wieder in Schwung und trat zum Fenster. Die Luft war lau, aber gegenüber der Tageshitze angenehm kühl. Eine milde Brise zerzauste ihre blonden Locken.
Seufzend erinnerte die junge Fürstin sich an ihre erste Schwangerschaft. Damals hatte sie über ihre Unbeweglichkeit und ihren dicken Bauch gestöhnt, doch gegenüber jetzt war sie damals geschwebt wie eine Elfe. Ihr derzeitiges Format zwang sie zu einem trägen Watschelgang, zumindest hatte sie das so im Gefühl – auch wenn ihr alle das Gegenteil versicherten. Doch wer konnte schon dem Gerede seiner Untertanen Glauben schenken?
Keiner würde es wagen, seine Fürstin als watschelnde und unförmige Ente zu bezeichnen.
Salde kicherte leise bei dieser Vorstellung. Doch das Kichern blieb ihr buchstäblich im Halse stecken, als sich eine dunkle Gestalt über die Fensterbrüstung schwang und in ihr Zimmer sprang. Die Fürstin brauchte einige Sekunden, bis sie den Eindringling erkannte. Erleichterung durchflutete sie.
„Kenjo“, flüsterte sie. Dann fiel sie ihm mit einem leisen Schrei in die Arme.
Kenjo zog sie eng an sich und atmete tief ihren Duft ein. Wie immer, wenn er diese Frau so nahe spürte, regte sich seine Männlichkeit. Doch er bezwang sich, wie schon die letzten Male.
Salde war nicht seine Partnerin – und er achtete Fürst Podons Anspruch.
Er schob sie von sich und betrachtete ihren Leib. Ein zufriedenes Lächeln huschte über sein Gesicht. Salde stand kurz vor ihrem zweiten Wurf, das war gut so. Aber dies war nicht der Grund seines Kommens.
„Du hast mich also geweckt“, flüsterte Salde. „Warum kommst du so heimlich?“
„Ich mag es nicht, wenn man mich anstarrt.“
Das war nichts Neues für Salde, und sie musste es wohl akzeptieren.
„Wartet Nuur draußen?“
Kenjo nickte. „Ja, er grüßt dich und findet es gut, dass du einen zweiten Wurf in dir trägst.“
Salde errötete, doch eher vor Stolz, als aufgrund dieser ungewöhnlichen Ausdrucksweise. An diese hatte sie sich mittlerweile gewöhnt.
„Du warst schon lange nicht mehr hier“, tadelte sie.
„Wir waren jagen, weit oben im Norden. Und wir bringen schlechte Nachrichten.“
Kenjos Stimme klang beunruhigend ernst.
In Salde streckte sich sofort die Fürstin und sie wartete ruhig auf seine nächsten Worte.
Kurz und knapp berichtete der junge Mann von den Dämonen und dem Beschluss der Berglöwen. Salde konnte seine Ausführungen kaum glauben.
Aber dann fiel ihr die wachsende Anzahl an Meldungen ein, die von grausamen Überfällen und Toten im Norden der Steppe berichteten.
Ob da ein Zusammenhang bestand? Aber Dämonen!
Salde teilte die Abneigung aller Vitreaner gegenüber Magie und somit auch gegenüber allen Geschichten, die damit zusammenhingen. Doch warum hatte noch niemand sonst von Dämonen berichtet?
Als sie Kenjo ihre Bedenken mitteilte, schüttelte er ernst den Kopf.
„Wer sollte davon berichten? Ich glaube nicht, dass viele Menschen Waffen besitzen, die den Dämonen trotzen können. Auch ich habe wohl nur überlebt, weil Fürst Podon mir das Messer überließ. Ohne dieses würde ich nicht mehr vor dir stehen und auch mein Volk wäre nicht gewarnt.“
Das leuchtete Salde ein, aber es versprach düstere Aussichten.
„Wir müssen es dem Fürsten sagen.“
Kenjo nickte zustimmend.
„Was müsst ihr mir sagen?“ knurrte eine unwirsche Stimme von der Tür her.
„Und welcher Kerl wagt es, sich nachts mit meiner Gemahlin zu treffen – und dann auch noch in meinen eigenen Gemächern?“
Kenjo trat näher an Fürst Podon heran, so dass dieser ihn in der Dunkelheit besser erkennen konnte. Der Fürst stand mit in die breiten Hüften gestemmten Fäusten in der Tür und versuchte die dunkle, groß gewachsene Gestalt zu erkennen.
Kenjo musste unwillkürlich lächeln, als er die wuchtige Gestalt des Fürsten betrachtete.
Fürst Podon war in den letzten Jahren deutlich in die Breite gegangen, was auch das weiße, fürstliche Nachthemd nicht verstecken konnte, und er bot in der Dunkelheit ein herrliches Ziel.
„Es ist Kenjo, mein Fürst“, erklärte Salde schnell. „Er bringt uns unheilvolle Nachrichten.“
Auf Fürst Podons Gesicht erschien ein zufriedenes Grinsen.
„Kenjo! Es ist gut, dass du uns besuchst. Ich habe einiges mit dir zu besprechen.“
„Mein Fürst, vielleicht solltet Ihr ihn erst einmal anhören“, eilte sich Salde zu sagen. Sie wusste nur zu gut, was für Ideen Fürst Podon bezüglich Kenjo hatte. Aber diese zielten im Wesentlichen nur darauf ab, wie er mit Hilfe von Kenjo und dessen Beziehung zu den Berglöwen seine Macht weiter ausbauen konnte, und Salde war sich sicher, dass Kenjos Bericht wichtiger war.
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