Ich glaube, das möchte ich nicht herausfinden. Wenn es mehrere sind, haben wir keine Chance. -
Dann lass uns gehen. Im Süden jagt es sich besser.
Also machten sie sich wieder nach Süden auf.
Es dauerte lange bis sie auf ein Lebewesen trafen, und es waren alles andere als erfreuliche Umstände.
Nuur entdeckte den leblosen Körper eines Berglöwen als erster und rief seinen Bruder herbei. Kenjo hockte sich neben den Löwen und legte die Hand auf den mächtigen Brustkorb. Dieser hob und senkte sich langsam, aber regelmäßig. Die Augen blickten starr und blicklos.
Sein Körper lebt, aber sein Geist ist verschwunden.
Nuurs Gedanken drangen traurig in Kenjos Geist.
War das einer der Dämonen? -
Ich glaube schon. Die Geschichten erzählen von solchen lebenden Toten. -
Dann sollten wir ihn erlösen!
Kenjo nickte zustimmend.
Nimm das Messer dafür, forderte Nuur.
Kenjo las die Trauer in seinem Löwenbruder und das tiefe Entsetzen. Kein Löwe tötete freiwillig einen anderen. Das Volk war klein und jedes Leben kostbar.
Kenjo biss die Zähne zusammen. Auch in ihm war dieses Verhalten tief verankert, doch er war auch ein Mensch, und er wollte nicht, dass sein Bruder gezwungen war, einen Verwandten zu töten. Das Messer war wohl wirklich die beste Lösung. Möglicherweise wurde damit auch der Dämon vernichtet, der in dem Löwen lauerte.
Sie ließen den Toten liegen. Die Beseitigung seines Körpers war jetzt Aufgabe der Geier, so lautete das Gesetz der Nordberge – auch wenn das noch dauern konnte.
Immer noch waren keine Vögel zu sehen.
Langsam wunderten sich die Gefährten nicht mehr, dass kaum Getier zu sehen war. Wenn noch mehr von diesen Dämonen durch die Berge streiften, dann war höchste Vorsicht geboten.
Noch zweimal trafen sie auf Opfer der Dämonen: Einen weiteren Berglöwen und einen Felsenspringer.
Beide Male übernahm Kenjo die traurige Aufgabe der Erlösung und die Stimmung der beiden Wanderer wurde jedes Mal niedergedrückter.
Auch ein zweites Zusammentreffen mit einem Dämon konnten sie nicht vermeiden.
Dieses Mal war es jedoch kein Luftdämon, sondern eine breite dunkle Gestalt mit vier riesigen Klauen, die anstelle von Händen an vier Armen saßen. Die beiden Beine endeten in scharfkantigen Hufen und waren breit und muskulös. Der Kopf war gesichtslos. Nur zwei rote Augen glühten ihnen hasserfüllt entgegen.
Das Ungetüm hockte auf einem Felsen, als hätte es auf sie gewartet. Sein Angriff kam schnell und war begleitet von gellendem Kreischen.
Nuur warf sich vor, um Kenjo Zeit zu geben das Messer zu ziehen. Immerhin war dieser Dämon von fester Konsistenz, so dass seine Pranken nicht ins Leere fuhren. Doch wieder blieben die Löwenkrallen wirkungslos. Dafür bohrten sich die Dämonenklauen tief in sein Fleisch. Nuur brüllte vor Schmerz und frustriertem Zorn. Bevor der Dämon ihn noch weiter verletzen konnte, warf sich Kenjo auf die schwarze Gestalt.
Auch diesmal zeigte das Messer Wirkung. Der Dämon brüllte und seine Arme schlugen nach dem jungen Jäger. Wieselflink sprang Kenjo zur Seite und wiederholte seine Attacke. Nuur unterstützte ihn nach Kräften. Zwar konnte er den Dämon nicht verletzen, aber zumindest konnte er ihn ablenken und mit Hilfe seiner Kraft und Masse aus dem Gleichgewicht bringen.
Trotzdem war dieser Kampf anstrengend, und sowohl Nuur als auch Kenjo blieben nicht ohne Verletzungen. Die Klauen ihres Gegners waren scharf und schnell.
Doch auch in diesem Kampf blieben sie siegreich, und der Dämon verblasste mit einem klagenden Laut.
Kenjo wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und hockte sich nieder. Nuur begann sofort ihre Wunden zu lecken.
Das gefällt mir alles nicht, Nuur. Woher kommen diese Ungeheuer? Und warum sind es so viele? -
Vielleicht weiß der Rat mehr darüber. -
Bis zum Rat sind es noch einige Monate und wer weiß, wie viele von unserem Volk bis dahin sterben müssen. -
Wir müssen sie warnen. -
Aber wie? Sie sind zu weit verstreut. Und unsere Gedankenkraft reicht nicht über diese Entfernungen.
Lange zerbrachen sie sich die Köpfe, was zu tun war. Schließlich meinte Nuur:
Vielleicht erreichen wir Moon und Miam. Ihre Gedanken sind den unseren gleich und sie sind nicht allzu weit weg. Sie wissen vielleicht Rat.
Also versuchten sie es. Sie verwoben ihre Gedanken und sandten sie weit nach Süden, suchend, fordernd.
Es war Miam, die sie fanden und gleich darauf auch Moon. Der Kontakt war schlecht, aber es reichte um ihren Löweneltern die schlechten Nachrichten zu zeigen.
Moon und Miam waren ehrlich entsetzt. Getötete Berglöwen und Dämonen, das hatten auch sie noch nicht erlebt.
Moon dachte ebenfalls, was Kenjo und Nuur schon befürchtet hatten.
Gegen Dämonen können Berglöwen nicht kämpfen. Wir müssen ihnen ausweichen. -
Aber wohin? fragte Miam.
Nach Süden. -
Dort sind Menschen! Sie werden uns nicht dulden. -
Kenjo wird es ihnen erklären!
Kenjo war es alles andere als wohl bei diesem Gedanken, aber wie konnte er seinem Vater widersprechen? Zumal dieser wahrscheinlich recht hatte.
Doch würden die Menschen auf ihn hören? Salde und Fürst Podon vielleicht. Auch Borago der Steppenläufer und der alte Timor. Doch wer sonst?
Du wirst es herausfinden, dachte Miam sanft. Doch eile dich. Vielleicht ist nicht mehr viel Zeit. -
Wie sollen wir unser Volk warnen? fragte Nuur.
Das übernehmen wir, antwortete Moon. Wir wissen, wo manche zu finden sind und unsere Gedanken werden sie aufspüren. Jeder der Bescheid weiß, wird andere informieren. -
Macht euch keine Sorgen, beruhigte Miam. Selten war es bisher nötig, doch es hat schon immer funktioniert. -
Gut, dann gehen wir zu den Menschen. Vielleicht wissen die, woher die Dämonen kommen, stimmte Kenjo zu.
Auch Nuur war einverstanden. Er hatte nichts dagegen, die Berge zu verlassen. Der letzte Kampf hatte ihm die Lust an einem weiteren Zusammentreffen mit Dämonen genommen.
Wenige Tage später, kurz bevor sie die Nordberge verließen, erreichte sie der Ruf Moons.
Unser Volk ist gewarnt und die Ältesten haben sich bereits beraten. Auch sie glauben, dass wir nach Süden müssen und dass du das Menschenvolk warnen musst. Die Gefahr ist groß, auch für die Menschen. Außerdem müssen sie erfahren, dass wir nicht in Feindschaft kommen. Kein Mensch soll durch uns zu Schaden kommen, es sei denn, er nähert sich uns in Feindschaft.
Eine freundliche Morgensonne schien auf Thlandian, die Hauptstadt des vereinten Königreichs Candona. Warm strichen ihre Strahlen durch die noch ruhigen Gassen und kitzelten die ersten Bewohner wach. Ihre Wärme erreichte auch die beiden hohen Türme, die wie eherne Wächter östlich und westlich der Königsburg emporragten. Die Türme selbst ähnelten sich vom Aufbau her sehr. Es gab den weithin sichtbaren zentralen Turm und rechts und links jeweils einen kleineren. Umgeben waren diese Bauwerke von einer gewaltigen Mauer, die auch Raum für Wohnungen und Stallungen bot. Doch die Bewohner der beiden Turmanlagen waren recht unterschiedlich. Der westliche Turm war Sitz des Magierrates und hatte mehrheitlich männliche Bewohner. Der Ostturm wurde ausschließlich von Frauen bewohnt. Hier lebten, lernten und arbeiteten die Weisen Frauen: Heilerinnen mit magischen Kräften und Bewahrerinnen des Wissens um die Heilkunde.
Als die Sonnenstrahlen die Spitze des östlichen Turms beleuchteten, schloss eine ältere Frau, welche im obersten Turmfenster saß, mit einem leisen Seufzer die Augen und genoss die Morgenwärme auf den Augenlidern. Ihre langen silbergrauen Haare schienen im zunehmenden Licht wie echtes Silber zu glänzen.
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