Ich schauderte bei dieser Vorstellung.
Gleichzeitig schauderte es mich bei dem Gedanken, wieder bei Alan wohnen zu müssen. Gab es denn keine andere Lösung? „Er wird es bereuen, meine Gefährtin angegriffen zu haben.“
Alan sprach so leise, dass sich bei mir sämtliche Nackenhaare aufstellten. Ah... die Sache mit der Gefährtin. Noch eine dieser unerfreulichen Angelegenheiten, die ich gern verdrängte. Bingham hatte das sicher nicht gewusst.
Was brachte es Alan also, jetzt das Kriegsbeil auszugraben?
Genau das hatte er am Telefon nämlich getan.
Nicht, dass ich Bingham verteidigen wollte, aber ich hatte die untrügerische Vermutung, dass der Wandler ihn möglicherweise mehr unter Kontrolle gehabt hatte, als wir alle vermuteten. Jetzt rächte er sich für dessen Tod. Möglicherweise hatte er gesehen, wie ich den Wandler, der Romans Aussehen angenommen hatte, ins Jenseits gesprochen hatte. Gesprochen – jawohl. Als movere besaß ich unter anderem die Fähigkeit, die Namen von Energiepunkten zu erkennen. Mit Hilfe meiner Stimme konnte ich durch das Aussprechen eben dieser Namen gewisse Vorgänge aktivieren beziehungsweise erzwingen. Selbst den Tod.
Hm.
Nein.
Das Aussehen des Wandlers schien keine Rolle zu spielen. Roman Bingham hatte ich kein Haar gekrümmt, was Bingham Senior wissen müsste. Gab es sonst jemanden, den ich massakriert haben könnte?
„Sam, du wirst mit mir kommen. Ich werde es nicht riskieren, dich diesem Vampir auszuliefern. Einen weiteren Angriff wirst du nicht überleben.“ Das war mir auch klar.
Doch alles in mir sträubte sich, mich von ihm bevormunden zu lassen. Oder ihn pausenlos um mich herum zu haben.
Ohne Freiraum.
Er beanspruchte mehr von mir, als ich bereit war ihm zu geben. Zumindest auf geistiger Ebene. Mein Körper hatte in seiner Nähe die Tendenz meine Vernunft zu übertrumpfen. Ich erinnerte mich sehr wohl an den Abend, an dem Roman – unter dem Einfluss des Wandlers – Alan aus seinem Haus entführt hatte. Wäre das nicht geschehen, wäre ich mit ihm im Bett gelandet. Oder gleich auf dem Teppichboden des kleinen Salons. Eine leichte Röte überzog meine Wangen, als ich mich daran erinnerte. Hoffentlich fiel das Alan nicht auf. „Nein, werde ich nicht. Ich habe andere Möglichkeiten.“ Humphrey zum Beispiel. „Mach dich nicht lächerlich, Sam. Du wirst mitkommen. Ohne Diskussion.“ Er träumte wohl! „Nein. Du kannst mich nicht zwingen.“ Alan schnaubte anzüglich. „Kann ich nicht?“ Schneller als ich blinzeln konnte, stand er hinter mir und biss mir in den Nacken, so dass mir die Tasse mit dem Kaffee klirrend aus den Händen fiel. Meine Knie gaben nach. Hätte er mich nicht festgehalten, wäre ich der Tasse gefolgt.
Mir war zum Heulen zumute.
Ich hasste es, wenn er das machte.
Ich hatte einen freien Willen, verdammt nochmal!
Doch durch seinen Alphastatus beziehungsweise seine Fähigkeit als Gestaltwandler, raubte er mir diesen, indem er mir einfach meine Bewegungsfähigkeit nahm.
Beinah so wie Bingham, der mir die Möglichkeit genommen hatte mich gegen ihn zu wehren. Konnten sie das nur tun, weil ich ein Mensch war?
Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass Alan auch andere Möglichkeiten hatte mich zum Gehorsam zu zwingen.
Ohne mit der Wimper zu zucken oder das Chaos in meiner Küche zu beseitigen, warf Alan mich über seine Schulter und trug mich nach draußen. Dort ließ er mich auf den Beifahrersitz seines Autos plumpsen und schnallte mich an. Er rannte zurück zum Haus, verschloss die Tür, kam zurückgerannt, riss die Fahrertür auf, hob vorsichtig meinen Kopf an, der nach vorn gefallen war – weil ich ihn nicht aufrecht halten konnte – streichelte mit dem Daumen über meine Wangen und lehnte meinen Kopf vorsichtig an die Stützen. Er sagte kein Wort, als er das Auto startete und wie ein Irrer durch die Stadt bis zu seinem Anwesen raste.
Noch immer konnte ich mich nicht rühren und auch nichts dagegen unternehmen, dass er mich erneut wie einen Kartoffelsack über seine Schultern warf und mit mir ins Haus stürmte, in dem er mich direkt in den kleinen Salon auf die Couch verfrachtete. Obwohl ich unfähig war zu sprechen, sagte ihm mein Blick hoffentlich mehr als tausend Worte. „Ich werde mich dafür nicht entschuldigen, Sam. Hasse mich, wenn dir dabei wohler ist. Aber zweifle niemals meinen Entscheidungen an. Ich bin nun mal, was ich bin.“ Als ob mich das interessierte!
Hatte mich jemand nach meiner Meinung gefragt?
Nein!
Hatte ich ein Mitspracherecht?
Offensichtlich nicht.
Verflucht, was war nur mit meinem Leben passiert? Was war meine Existenz wert, wenn ich nicht mehr selbst entscheiden durfte?
Sicher: Alan war ein Hingucker von einem Mann. Groß, mit den richtigen Proportionen, langen Beinen, einer breiten Brust, wohl definierten Muskeln, einem göttlichen Gesicht, beeindruckenden Augen, sinnlichen Lippen und einer Stimme wie Samt und Honig. Sex, verpackt in einer stattlichen männlichen Hülle, unter deren Oberfläche die Gefahr lauerte.
Im Moment brodelte die so deutlich, dass ich liebend gern einige Kontinente zwischen uns gehabt hätte. Doch es loderte noch etwas anderes in ihm. Etwas, von dem ich wusste, dass es mich früher oder später übermannen würde. Eine derartig verzehrende Gier, gepaart mit einer Leidenschaft, für die es kein Entrinnen gab.
Oh, oh!
Ich hatte mich in den letzten acht Wochen keinen Deut darum geschert, wann ich meine heißen Tage hatte. So nannten die Gestaltwandler die fruchtbaren Tage einer Frau. Ich konnte mich nicht mal erinnern, wann ich meine Periode gehabt hatte. Vor einer Woche? Vor zwei? Mit etwas Glück hatte ich noch ein wenig Zeit, bis ich in Schwulitäten geriet. Ich wollte nämlich definitiv nicht mit ihm schlafen. Na ja, vielleicht ein bisschen. Aber dann bildete er sich womöglich ein, dass ich ihm zustimmte; in allem. „Du wirst dich nicht von mir entfernen! Sollte ich verhindert sein, wird jemand auf dich aufpassen. Wenn es nötig ist, binde ich dich irgendwo fest. Haben wir uns verstanden?“ Der Drang ihm meinen Mittelfinger zu zeigen, war überwältigend. Leider reagierten meine Muskeln noch immer nicht auf meine Befehle. Wieso eigentlich nicht? Es hatte doch sonst nie so lang gedauert! Lag es an Binghams Biss?
Hatte Alan irgendeinen Nerv erwischt?
Oh Gott, was, wenn ich gelähmt bliebe?
Panik überrollte mich und drohte mich zu ersticken. „Sam, du musst mir vertrauen. Ich werde alles Mögliche tun, damit Bingham dir nie wieder zu nah kommt.“ Vertrauen? Für Witze war ich definitiv nicht zu haben.
Wusste er überhaupt, welche Bedeutung dieses Wort hatte? „Ich kann es nicht zulassen, dass er sich ungestraft an Mitgliedern meines Rudels vergreift. Gleich recht nicht an meiner Alpha. Er wird dir nichts antun können, solange du das tust, was ich dir sage.“ Da war ich mir nicht sicher. Was, wenn Bingham jetzt auftauchte? Würde Alan es bemerken, bevor der Vampir ihn angriff? Roman hatte er an dem einen Abend auch nicht kommen gehört. Konnte Bingham Alan umbringen?
Um ehrlich zu sein, ich wollte es nicht wissen.
Es waren nur Überlegungen, die mich davon abhielten, mich meiner Panik hinzugeben oder Alan weiter zuhören zu müssen. „Finde dich damit ab. Ich lasse dich nicht sterben. Dafür bist du mir zu viel wert.“ Ja klar. Als zukünftige Gebärmaschine für seine Kinder. Tja, ohne mich. Da konnte er sich auf den Kopf stellen.
Nackt.
Auf dem Himalaya.
Denn selbst wenn ich vergessen hatte darauf zu achten, wann meine fruchtbaren Tage waren, so hatte ich doch inzwischen dafür gesorgt, dass ich nicht mit einer ungewollten Schwangerschaft konfrontiert wurde. Immerhin war ich nicht so dumm mir einreden zu wollen, dass ich seiner Anziehungskraft gegenüber immun war. Es war mir klar gewesen, dass sich unsere Wege früher oder später wieder kreuzen würden.
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