Der nächste Wimpernschlag katapultierte mich an das windumtoste Meer. Trotz Ebbe rollten einzelne Wellen weit den Sandstrand hinauf. Elin wartete bereits. Sie warf mir einen kurzen, unsicheren Seitenblick zu.
„ Ein ordentlicher Herbststurm zieht auf.“
Die Elbe nickte stumm, begann ihre Hände zu kneten.
Aneels Worte über ihre Zerrissenheit geisterten noch in meinem Kopf. Kurzerhand beschloss ich, der Elbe eine weitere Chance zu geben.
„ Ich wollte dir diese Zerrissenheit nicht antun, Elin. Aber ich dachte, wenn wir alle gemeinsam lernen, dann würden wir einander mit der Zeit besser verstehen. Du, Joerdis, ich und die Lichtwesen. Nur war in dem ganzen Chaos nie genug Zeit vorhanden.“
Entgeistert rief sie: „Niemand darf dir eine Mitschuld anhängen!“
„ Das tun sie dennoch, Punkt. Jeder von uns hat etliche Fehler begangen. Wie auch nicht?!“
Überrumpelt sagte die Elbe nur: „Ja, so ist es.“
„ Elin, wenn wir uns jetzt selbstsüchtig entzweien, strecken wir bereits vor der Höllenschlacht unsere wenigen Waffen.“
„ Ich weiß, mein Handeln war dumm und egoistisch“, gestand sie betreten ein.
Eine Weile schauten wir den Wellen zu.
„ Für mich bist du niemals eine Dienerin gewesen, sondern meine Lehrerin, später Gefährtin. Und die benötige ich auch weiterhin.“ Grinsend fügte ich hinzu: „Allein schon, um mit dem Männerverein im Castle fertig zu werden.“
„ Aber was soll ich jetzt tun?“, begehrte sie kläglich zu wissen.
„ Sei wachsam, Elin, suche deinen eigenen Schicksalsweg. Kehre vor allem auf deinen Platz in unserer Gemeinschaft zurück. Schaffst du das?“
Langsam drehte sie mir ihr Gesicht zu, mit Augen voller Zweifel und Verzagen. „Werden sie mich aufnehmen nach allem, was ich getan habe?“
„ Selbstverständlich!“ In dieses eine Wort legte ich volle hundert Prozent an ehrlicher Überzeugung. Dafür würde ich umgehend Sorge tragen.
Meine naiv simple Gleichung über Harmonielehre, anzuwenden unter Dickköpfen, würde scheitern. Die intergalaktischen Gesangsscharen dachten nicht in Lichtjahren daran, die Geschichte mit Elins eigenmächtigem Kamikazetrip auf den nächstbesten Sternenhaufen zu kippen. Sie wollten bedingungslos Gehorsam, Disziplin, blablabla. Also die perfekte Dienerin zurück, die Elin jahrhundertelang gewesen war. In naher Zukunft würden sie, ohne dass irgendjemand davon erfuhr, die Elbe bis zur demütigen Gefügigkeit malträtieren.
In seinem Londoner Unterweltdomizil vergaß der Dämonfürst alles um sich herum. Er verschmähte sogar die von Sklaven dargebotene frische Seelenbeute. Sein Geist war eins mit der machtvollen, schwarzen Magie. Der tiefrot lodernde Feuerkreis um den Thron herum schwoll rhythmisch auf und ab. Sein Kopf pendelte hypnotisch. Mit jeder neuen Beschwörung der Wahnsinnsflut gegen Joerdis und mich sank er tiefer in Trance.
Heulend jagten Sturmböen um das Castle, rüttelten an den Fensterläden, pfiffen durch kleinste Ritzen.
„ Geh in die Kathedrale, bring es hinter dich.“
„ Wird das jetzt der Standardsatz fürs Aufwachen?“ Der Wecker zeigte kurz vor Dinner an.
Nach dem langen Strandgespräch mit Elin hatte ich umgehend das Männertrio instruiert, die Elbe in Ruhe zu lassen. Sie sollten nach Möglichkeit so tun, als wäre alles beim Alten. Und ich hoffte inständig, dies würde wahrhaftig schnellstens wieder der Fall sein. Als Zückerchen beantwortete ich meinen Freunden mit wahrer Engelsgeduld ihre kompletten 199 Fragen zu meiner Expedition durch die legendären römischen Katakomben. Danach verpasste ich den Nachmittag als schlafender Stein im Bett.
Gerade erst halb erwacht, suppte bereits die Kathedrale des Bösen durch meine Gedanken. „Wie sein Höllenloch wohl aussieht? Könnte ich dort vielleicht nochmal ein bisschen herumschnüffeln? Beim letzten Besuch ging das immerhin ohne größere Zwischenfälle.“ „Da warst du gar nicht hineingelangt“, brummte mein Alter Ego schroff. „Hmmh, trotzdem....“
Die Zimmertür ging auf.
„Lil, kommst du zum Dinner hinunter?“, wollte Alexis wissen.
„Gib mir eine Minute.“
Die Tür schloss sich.
„ Warum soll es so schwer sein, unbemerkt in die Fürstengruft einzudringen? Wer behauptet das eigentlich? Die Höhlen von Amhuinn habe ich schließlich auch geknackt. Ob ich heute Nacht einfach mal hinspringe?“ Ungebetener Kommentar: „Und dabei einfach mal draufgehen?“
Die Zimmertür ging erneut auf.
„Lil, wo bleibst du?“ Verblüfft guckte er zum Bett. „Du bist ja noch gar nicht aufgestanden.“
„Ja, ja. Fangt schon mal ohne mich an.“
„Los, raus aus den Federn! Sogar Elin und Aneel leisten uns Gesellschaft.“
„Oh! Warte eine Sekunde.“
Die Unterhaltung unserer Tischgesellschaft plätscherte bemüht locker dahin. So kreisten meine Gedanken rastlos und wild um des Oberdämons unbekannte Stätte.
Nach dem scheinbar endlosen Dinner, dessen Speisen mich wenig lockten, setzte sich unsere Gemeinschaft wie üblich vor das wärmende Kaminfeuer. Draußen legte der Sturm noch eine Schippe drauf. Leder knarzte, Eiswürfel klirrten in geschwenkten Gläsern, behagliches Schweigen erfasste das Halbrund – bis auf mich. Meine Gehirnwindungen kollabierten schier unter zusammenhanglosen Querschüssen. Die übermittelte ich, vielleicht ein manipulierter Hilferuf von Seelenschwester Joerdis, unsortiert den Elben:
„ Die Londoner sind für den Dämonfürsten allzu leichte Beute. Elin, überprüfe bitte nochmals die Clans. Wie gelange ich in die Kathedrale? Wir müssen den Schutz um das Castle verstärken . “ Und so fort.
Aneels Stimme flutete mit elbischer Macht meinen Geist. „Lilia, halte inne.“
Verwirrt schaute ich auf. „Womit?“
Und so erhielten die beiden Elben einen ersten Vorgeschmack auf die Wahnsinnsattacke des schwarzen Fürsten.
Am fortgeschrittenen Vormittag des folgenden Tages fand Alexis mich, noch immer tief schlafend, in meinem Bett vor. Er setzte sich einen Moment auf die Bettkante und betrachtete mein schmales Gesicht mit seinen unerklärlich dunklen Augenringen. Zärtlich streichelte er meine verknautschte Wange, bis ich mich regte.
„Geh in die Kathedrale, bring es hinter dich“, murmelte ich schlaftrunken.
„Was sagst du da?“, hakte Alexis nach, derweil er glaubte, sich verhört zu haben.
„Die Kathedrale, ich muss hinein.“
„Ja. Aber weder jetzt, noch ohne Plan und schon gar nicht allein“, erwiderte er streng.
Ich setzte mich auf und sah ihn irritiert an. „Wovon redest du?“
„Lil, also wirklich! Geh unter die kalte Dusche.“
„Brrrrh!“
„Das könnte eine Nebenwirkung sein. Hauptsache, du wirst klar im Kopf.“
Damit ging Alexis hinaus.
Hatte er ‚Plan‘ gesagt? „Wozu?“
Die nächsten Stunden verrannen, ohne dass ich mich erinnern könnte, womit.
Irgendwann erwischte Elin mich, allein in der Küche auf und ab gehend.
„ Ich möchte mich bei dir bedanken.“
„ Wofür?“
Verwundert schüttelte sie den Kopf. „Niemand außer dir vermochte es zu vollbringen, mich auf meinen Schicksalspfad zurück zu führen. Und die Gemeinschaft…“
Ohne ihr überhaupt zugehört zu haben, unterbrach ich die Elbe. „Wer wacht über Berlin? Gehe ich besser bei Tag oder Nacht in seine Kathedrale?“
„ Lilia, komm mit.“
Elin nahm meine Hand und zog mich energischen Schritts hinaus zum Pferdestall.
Mit Esper und der Stute Salice starteten wir kurz darauf in den dämmrigen Nadelwald. Das sanfte Schaukeln des warmen Pferderückens beim Anstieg zum Plateau auf dem Hausberg entwirrte allmählich den gordischen Gedankenknoten in meinem Kopf. Tief sog ich den würzigen Duft der alten Bäume ein.
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