Draußen auf dem Gang ertönte der Gong. Frau Sommerfeld schaute ins Zimmer.
„Abendbrot, meine Damen. Na, alles in Ordnung bei Ihnen?”
Almut seufzte erleichtert.
„Ja, alles geklärt soweit.”
„Sie sehen blass aus, Frau Körner. Ist ja auch alles ganz schrecklich. Besonders für Sie. Wenn Sie möchten, gebe ich Ihnen nachher etwas Gutes zum Einschlafen.”
Hilde erhob sich aus Michis Sessel und stellte die Teetassen auf das Sideboard. Sie hatte mit einem Mal großen Appetit auf saure Gurken und gebuttertes Vollkornbrot mit Emmentaler.
„Danke, das ist lieb von Ihnen. Aber Sie wissen ja, ich habe meine eigenen Kräuter.”
Lucas, 26. September
Lucas trat aus dem Café und atmete ein paarmal tief durch. Es regnete nicht mehr, aber es war immer noch ungemütlich. Er schaute sich um. Die ganze Situation war irgendwie unwirklich. Die Leiche hatte man abtransportiert, das hatte er vom Café aus gesehen. Aber immer noch waren im Park Leute von der Polizei beschäftigt, begafft von schaulustigen Anwohnern. Dass das Opfer längst fort war, schien sie nicht davon abzuhalten, die Vorgänge weiterhin zu beobachten. Da gab’s doch am Abend eine Menge zu erzählen. Lucas hätte auf diese Erfahrung gerne verzichtet.
Die Kommissarin hatte ihm erlaubt, nach Hause zu gehen. Er zog die Visitenkarte aus der Tasche, die sie ihm für den Fall mitgegeben hatte, dass ihm noch etwas einfiele. Oder dass man ihn noch einmal sprechen wollte, damit er dann wüsste, wo er sie findet. Barbara Allenstein las er. Richtig. War ihm in der Aufregung schon wieder entfallen. Sie schien ganz nett zu sein. Aber was hieß das schon? Frau Allenstein wollte mehrfach dieselben Sachen von ihm wissen, vorwärts und rückwärts. Was er im Park zu tun hatte, wann genau er gekommen war, wo er vorher war, ob das jemand bezeugen konnte, ob er etwas gesehen hätte, woher er die Tote kannte usw., usw., usw. Immer ganz freundlich. Während er geduldig ihre Fragen beantwortete, beobachtete sie ihn genau, das war ihm aufgefallen. Sie fixierte ihn dabei mit leicht zusammengekniffenen Augen, so als wollte sie ihm signalisieren: „Bursche, ich habe dich im Blick. Wenn du lügst, kriege ich das raus.“ Dunkelbraune Augen hatte sie, mit langen gebogenen Wimpern. Und mit ein paar ganz kleinen Lachfältchen in den Augenwinkeln. Überhaupt, sie war hübsch anzusehen, die sportliche, aber doch weibliche Figur, ihr dunkler Lockenkopf ... Mein Gott, was fantasierte er denn da herum! Das kam davon, dass sein Kopf sich inzwischen wie Watte anfühlte. Der Schock mit Frau Wurzbach hatte seinen Verstand irgendwie auf Pausenmodus geschaltet.
Lucas stieg in seinen Firmenwagen, manövrierte vorsichtig rückwärts an den Gaffern und den Polizeiwagen vorbei und bog in die Freie-Vogel-Straße Richtung Phoenix- See. Er wollte nur noch nach Hause. Von unterwegs rief er seinen Freund Ingo Strass an. Ingo war Personaldisponent bei der Gebäudereinigung Hellmann GmbH, ebenfalls ein alteingesessenes Dortmunder Unternehmen, aber zigmal größer als sein eigener Einmannbetrieb. Sie hatten sich vor Jahren in einem großen Bürokomplex kennengelernt und waren seitdem befreundet. Jeder bediente seine eigene Nische und nahm dem anderen nicht die Butter vom Brot.
„Tuut, tuut, tuut ...“, tönte das Freizeichen aus Lucas’ Freisprechanlage. Er wollte schon aufgeben. Doch im letzten Moment ging Ingo ans Telefon.
„Wat brauchse, Kumpel?“ Ingo war kein Mann vieler Worte. Lucas schmunzelte. Wenn Ingo nach Feierabend in seinen Freizeitjargon verfiel, wirkte seine heisere Bassstimme am besten, fand er.
„Diesmal brauche ich gar nichts, Ingo. Ich will dir was schenken.“
„Wat schenken? Wat denn? En neuen Putzeimer?“
Lucas hörte ihn kichern. „Nein, ich will dir echt was Schönes schenken. Du freust dich bestimmt. Wenn du willst, kannst du dir in einer halben Stunde bei mir die Eintrittskarte für das Spiel heute Abend abholen.“
„Hä? Wieso gehse nich selbs?“
„Mir ist nicht gut. Ich bleib’ heute Abend zu Hause.“
„Wie jezz, bisse krank?“
„Nein, nicht krank, aber ich fühle mich grauenhaft. Hatte einen schrecklichen Tag. Erzähl’ ich dir später.“ Das reichte, damit Ingo nicht weiter insistierte, auch eine lobenswerte Eigenschaft seines Freundes.
„Dat kann ich doch gar nich annehmen. Wat kostet die denn? Ich bezahl dir dat.“
„Tust du nicht. Ich will, dass Du ins Stadion gehst und Spaß hast. Also, kommst Du so gegen halb sechs?“
„Ja, klar. Wenn dat wirklich dein Ernst is. Ich wollt’ schon immer mal Ronaldo live sehen.“
„Dann kannst Du das ja jetzt machen. Also bis später.“ Ingo war ein glühender BVB-Anhänger und insgeheim ein klein bisschen neidisch auf Lucas’ Dauerkarte mit Option auf Sonderspiele. War ja auch nicht einfach dranzukommen, an die Dinger.
Seine stammte noch von Hubert.
Ungefähr um fünf Uhr sollte ein Polizeibeamter die Arbeitsjacke und die Latzhose abholen, die er im Augenblick noch trug. „Für die Spurensicherung“, hatte Kommissarin Allenstein gemeint. Das war ihm schon klar gewesen. Und auch, dass sie ihn auf dem Kieker hatte.
„Der Gerichtsmediziner meint nach erster Einschätzung, dass das Opfer erst kurz vor Ihrem Eintreffen gestorben ist. Herr von der Forst, bitte denken Sie genau nach. Haben Sie irgendjemanden in Tatortnähe gesehen? Auf dem Parkplatz vielleicht? Jemand, der Richtung Supermarkt gelaufen ist, ins Gewerbegebiet oder Richtung Phoenix See?‘‘
Nein, hatte er definitiv nicht. Keine Menschenseele. Da konnte sie fragen, so oft sie wollte. Außer der alten Frau Körner natürlich. Damit war er für die Polizei der Verdächtige Nummer eins. Gesagt hatte die Kommissarin das zwar nicht, aber er war ja nicht blöd.
Inzwischen war er in die Wiggerstraße eingebogen. Endlich zu Hause! Er fuhr durch den Torbogen in den Hinterhof seines Hauses, wo sich die Garagen befanden. Kaum hatte er seine große Doppelgarage abgeschlossen, da stand schon der Polizist vom Streifenwagen hinter ihm. Von wegen 17.00 Uhr! Wahrscheinlich hatten sie Sorge, er könnte sein Arbeitszeug noch in die Waschmaschine werfen. Der Beamte wich ihm nicht von der Seite, bis sie vor Lucas’ Wohnungstür im Hochparterre standen. Als sie den schmalen Flur betraten, klebte er immer noch wie Kleister an seinen Hacken.
„Bringen wir’s hinter uns.“ Lucas öffnete direkt die Badezimmertür. „Wollen Sie mitkommen?“
„Lassen sie nur“, sagte der Polizist und reichte ihm vom Korridor aus einen Plastikbeutel. „Da packen Sie mal alles rein, also Hose und Arbeitsjacke. Hatten Sie sonst noch was an?“
„Nein, nur das Sweatshirt untendrunter, die Schuhe und die Socken.“
„Packen Sie die Sachen auch mit ein. Kriegen Sie ja alles wieder.“ Für die Schuhe reichte er Lucas einen extra Beutel und sah sich auffällig unauffällig im Flur um. Lucas war froh, dass er am Morgen alle Zimmertüren geschlossen hatte. Was ging den Mann an, wie er wohnte?! Er registrierte, wie der Polizeibeamte mit wachsamen Blicken all seine Bewegungen verfolgte. Bildete er sich das nur ein, oder schwebte die Hand des Gesetzeshüters in der Gegend seiner Waffe?
Langsam und bedächtig stieg Lucas aus seinen Schuhen, zog sein Zeug aus und stopfte alles in die vorgesehenen Beutel. „Das war’s.“ Er gab dem Polizisten die Tüten und begleitete ihn in Unterhosen hinaus. Mit beiden Händen drückte er hinter seinem „Gast“ die Tür ins Schloss und lehnte sich erschöpft dagegen. Er sehnte sich nach einer ausgiebigen Dusche, bevor er in frische Kleidung schlüpfte.
Kurz vor halb sechs stand Ingo in voller gelb-schwarzer Montur vor der Tür: Mütze, Schal und Trikot von Roman Weidenfeller. Nicht ganz aktuell, aber von Herzen! Er drückte Lucas eine Tüte in die Hand. „Hier, Junge, damit du nich verhungers!“ Sein Bass dröhnte durchs gesamte Treppenhaus. Und dann: „Mensch, du siehs echt scheiße aus. Kann ich wat für dich tun?“
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