„Lasst uns nun singen das Lied Nr. 529 So nimm denn meine Hände zur Ehre Gottes und zum Andenken an die Verstorbene.”
Das Singen tat gut, weitete die Lungen und befreite Hildes Gedanken von der leisen Wehmut, die sie seit den Erinnerungen an Kurt und dem schwarzen Etuikleid umgab. Ihr war, als habe sich unterhalb ihres Solarplexus ein Pfropfen gelöst. Nun flossen dort mit dem Gesang Gefühle und Stimmungen heraus. Ihr wurde es leichter ums Herz. In den Augen allerdings Tränen. Aber die durften dort auch sein auf einer Beerdigung. Kein Grund zur Scham. Es wusste ja niemand, dass Hildes Gefühle nicht der Wurzbach, sondern den alten Zeiten galten. Das Lied kannte Hilde auswendig. Dazu brauchte sie kein Gesangbuch. Zur Leichtigkeit ihrer Empfindung passte der freie Blick nach oben in die hohe Deckenkonstruktion aus schönen Hölzern.
„Ich mag allein nicht gehen, nicht einen Schritt. Wo du wirst gehn und stehen, da nimm mich mit.”
Das Lied hatten sie auch für Kurt gesungen. Seine Feier war natürlich anders verlaufen als diese hier. Weniger alte, senile Leute, mehr junge Menschen. Im Grunde voll das pralle Leben. Kurt war schließlich im örtlichen Umweltschutz gewesen und gemeinsam mit Hilde im Sauerländischen Gebirgsverein. Statt dem Gedudel aus der hauseigenen Anlage hatte es richtige Live-Musik gegeben. Nicht nur Kirchenlieder, sondern auch Musicals und Pop Musik. Frank Sinatras I did it my way zum Beispiel. Da kannten die Freunde aus Kurts Posaunenchor nichts.
Den feschen Jungen vom CVJM hatte Hilde schon früh kennengelernt. Noch vor ihrer Konfirmation setzte Pfarrer Scholzen sie als Helferin im Kindergottesdienst ein. Ja, so hatte es angefangen mit ihr und Kurt. Denn auch er engagierte sich in der Jugendarbeit in Unna.
„So lasset uns denn miteinander für die Verstorbene beten.”
Ruth hielt noch immer zufrieden das Gesangbuch fest.
„Gleich gibt es Schnittchen und Kuchen”, erklärte ihr Hilde.
„Ruhe!”, mahnte Almut von links.
Heute sah man Almut die Strapazen der Chemo an. Da half auch die Pagenkopfperücke nichts. In den letzten Wochen war sie schmaler geworden. Und eine Hautallergie hatte diese Behandlung auch ausgelöst. Juckende Stellen an Händen und Armen. Anfangs war Hilde sauer auf ihre Freundin gewesen. Hatte geglaubt, Almut gehe heimlich in die Stadt shoppen. Allein, ohne sie mitzunehmen. Bis sie ihr dann von dem Lymphknotenkrebs am Hals erzählte und von der Chemotherapie. Ja, so war sie die Almut, bei Krankheiten verschwiegen bis zum Gehtnichtmehr.
„Soll ich mit ärztlichen Hypothesen hausieren gehen? So eine Tratschtante bin ich nicht.”
Angeblich hatte man bei dieser Krebsart gute Heilungschancen. Auch ohne Operation. Mental war Almut immer noch gut drauf. Ließ sich von keinem was vormachen. Half ja auch den Kindern aus dem Familientrakt bei den Schulaufgaben. Hilde unterstützte sie in Mathe. Als ehemalige Bankkauffrau konnte sie gut mit Zahlen umgehen. Auch mit Geschichtsdaten. Aber Almut erklärte ihr ständig, wie man das für die Kinder anschaulicher machte. Nun ja, einmal Lehrerin, immer Lehrerin.
„Amen.”
Nach dem Segen wies der Pastor die Trauergemeinde darauf hin, dass die Beisetzung der Urne zu einem späteren Zeitpunkt im engsten Familienkreis stattfinden werde. Dann sprach er den Wurzbachtöchtern und deren männlichen Anhang noch einmal sein Beileid aus. Händeschütteln am Kopf einer Warteschlange. Auch die anderen Trauergäste wollten der Familie kondolieren. Dazu hatte Hilde keine Lust. Man musste die Sache ja nicht übertreiben. Viel sinnvoller war es, jetzt schnell einen Platz an der Tafel zu sichern. Am besten noch, bevor die Schiebetür zum Speiseraum offiziell geöffnet wurde.
Almut rückte ihren Stuhl. „Will nur schnell zur Toilette, bevor der große Ansturm kommt.”
„Sehr vernünftig. Wir gehen schon mal zu Tisch.”
Drei Damen aus dem Café Christgen stellten gerade Platten mit Kuchen und belegten Brötchen zwischen Almuts Blumendeko, als Hilde mit Ruth durch eine Nebentür in den Feierraum trat .
„Da können wir ja nicht verhungern”, sagte sie. Andrea Caspari, die Konditorin des Cafés, lachte. „Das wollen wir doch nicht hoffen, Frau Körner. Streuselkuchen und Bienenstich kommen frisch aus dem Ofen.” Mit kritischem Blick kontrollierte sie noch einmal Platten und Gedecke. Dann klatschte sie in die Hände. „So, Mädels, alles bereit für die Gäste. Ihr könnt die Tür zum Andachtsraum öffnen.”
Von ihrem Platz aus entdeckte Hilde im Gewusel der Trauergäste eine junge Frau mit dunklen Locken. Wo kam die denn mit einmal her? Stand direkt neben Frau Sommerfeld. Einen wunderschönen Schal trug sie um den Hals. Edle Seidenkreation in Grüntönen. Ob das die Kommissarin war, von der alle sprachen? Sie lächelte so nett, schaute jetzt gemeinsam mit Frau Sommerfeld herüber. Oh, winkte auch noch. Hilde winkte zurück. Bestimmt wollte sie gleich mit ihr über den peinlichen Blackout im Teichpark sprechen. War ja ihre Pflicht als Kommissarin. Hilde wollte auch kooperieren. Aber dass dies jetzt sein musste, wo es gerade so gemütlich wurde, passte ihr eigentlich gar nicht.
Ruth wippte in freudiger Erwartung auf ihrem Stuhl, hielt aber noch immer das Gesangbuch in den Händen.
„Komm, das legen wir einfach neben die Blumen. Schließlich sind wir zum Futtern hier.”
Ruth kicherte. Aus dem Andachtsraum näherte sich Frau Sommerfeld.
„Freut mich, dass es Ihnen beiden schon schmeckt. Aber könnte die Kommissarin gleich mal mit Ihnen sprechen, Frau Körner? Sie wissen ja, dass Frau Allenstein Sie neulich nicht wecken wollte.”
Hilde trennte mit ihrer Kuchengabel demonstrativ ein Stück vom Bienenstich ab. „Gerne, aber erst will ich mit Ruth Kuchen und Brötchen essen.” Aus den Augenwinkeln sah Hilde, wie die Kommissarin sich trotzdem auf ihren Tisch zubewegte. Hilde tat so, als ob sie das Herannahen dieser Frau Allenstein nicht bemerkte.
„Ich glaube, es regnet nicht mehr, Ruth. Lass uns nach dem Kaffeetrinken noch mal kurz auf den Balkon gehen, ja?”
Ruth nickte. Dann biss sie in ein Mettbrötchen.
Barbara, 29. September
„Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und dein Stab trösten mich.“ Alle lauschten andächtig dem Pastor.
Barbara kam etwas später zur Andacht, als eigentlich geplant. Kollege Beilage hatte ihr noch die Ergebnisse der Spinddurchsuchung mitgeteilt. Zusammen mit den Belegen des Gold- und Schmuckverkaufes ergaben sie ein rundes Bild. Die Getötete war eine Diebin. Als Barbara sich umschaute, entdeckte sie Frau Sommerfeld und nickte ihr wortlos zu. Alle Trauergäste waren sehr chic angezogen und in Schwarz. Das gehörte sich noch so in dieser Generation, dachte Barbara. Hier im Andachtsraum waren nur wenige unter 75 Jahre alt, stellte sie fest.
Noch vor zwei Monaten war sie auf Wunsch der Eltern auf Bens Beerdigung gewesen. Sie hatte damals den entscheidenden Hinweis entdeckt und seinen Mörder zur Strecke gebracht. Es war eine herzergreifende Beerdigung, die sie nicht vergessen würde. Ben war erst zehn Jahre alt gewesen. Kinder sangen, es liefen Bilder von Ben und seinen Freunden auf einem Bildschirm, überall waren bunte Blumen, Spielzeug und Teddybären. Es war eine farbenfrohe Beerdigung gewesen, trotz all der erschütternden Trauer.
„Lasst uns nun singen das Lied Nr. 529 So nimm denn meine Hände zur Ehre Gottes und zum Andenken an die Verstorbene.“
Als die Andacht sich dem Ende zuneigte, näherte sich Barbara Frau Sommerfeld. „Haben Sie mal ein paar Minuten.“
„Natürlich. Wie kann ich helfen?“
„Sie waren ja bei der Spindleerung dabei. Mein Kollege hat mich heute informiert. Es wurden Uhren und zwei Goldketten gefunden. Konnten die zugeordnet werden?“
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