Sie bemerkte auch, dass ein paar der Steinplatten, die einige Gräber bedeckten, in der Mitte gespalten und teilweise eingesunken waren. Das hatte mit Sicherheit kein Vandale verursacht. Der hätte schon mit einem Vorschlaghammer auf den Friedhof kommen müssen und wenn Hetty auch sehr viel Phantasie hatte, soweit ging nicht einmal ihre Vorstellungskraft. Doch gruselig war dieser Anblick allemal und Hetty erwartete fast, irgendwann einmal bleiche Knochen zwischen den Bruchstücken zu sehen.
Obwohl es helllichter Tag war und irgendeines dieser Gräber doch auch einmal Besuch von einem Angehörigen bekommen musste, blieb der Friedhof menschenleer. Auch keiner von den vielen Leuten, die auf dem Wanderweg am unteren Rand vorbeigingen oder joggten, beachtete dieses wundervolle Ensemble. Die Häuser von Bronte reichten links und rechts bis an den Rand des Friedhofes heran, aber auch diese Wohnstätten wirkten reichlich verlassen und ließen den Gedanken aufkommen, dass die Besitzer vielleicht alle schon in diesen Teil der Anlage umgezogen waren.
Wobei es Hetty nur recht war, dass sie niemand bei ihrer Erkundungstour störte. Sie knipste einen Magpie, der es sich auf einer schrägen Grabplatte bequem gemacht hatte. Der schwarzweiße Vogel passte, wie die Faust aufs Auge, in diese Umgebung. Er wirkte wie ein Bote aus dem Jenseits und musterte sie mit schiefgelegtem Kopf.
Schmunzelnd gab Hetty einen Kommentar auf seinen fragend wirkenden Blick ab. »Da musst du schon noch ein bisschen warten.«
Als sie zwei Stunden später endlich am oberen Teil des Friedhofes angekommen war, und hier einige der größeren Kriegerdenkmäler umkreist hatte, machte sie eine Pause und setzte sich auf eine der Steinstufen. Der Ausblick war einfach fantastisch. Sie war umgeben von Engelsfiguren, die sich vor dem strahlend blauem Himmel abzeichneten und hatte einen wundervollen Blick auf die Küstenlandschaft und das Meer. Wenn das nicht der schönste Friedhof der Welt war.
Ihre Digitalkamera hatte eine schwere Zeit hinter sich. Inzwischen war die Speicherkarte fast komplett voll, denn sie hatte immer wieder eine Figur oder ein Grab gefunden, das sie unbedingt noch fotografieren musste. Nun wurde es langsam Zeit ihre Wanderung zum Bondi Beach fortzusetzen. Während sie im Zickzackkurs zwischen den Gräbern nach unten ging, konnte sie natürlich ihre Augen, nach wie vor, nicht von den Grabtafeln lassen.
Deshalb war es auch kein Wunder, dass sie stolperte und der Länge nach hinschlug, weil sie nicht auf den Weg geschaut hatte und mit dem Fuß in ein Loch getreten war. Sie hatte sich noch glücklich abgefangen und es auch geschafft, dass die Kamera nicht beschädigt worden war. Aber als sie sich aufrichten wollte fingen ihre Augen ein Bild ein, auf das sie gerne verzichtet hätte. Nachdem sie gründlich und ausdauernd geschrien hatte, beruhigte sich langsam ihr Herzschlag.
»Krieg dich wieder ein, du bist schließlich auf einem Friedhof und da gibt es nun mal Tote!« Ihr Verstand versuchte sich durch die gesträubten Haare einen Weg zu bahnen.
Hetty starrte wie versteinert auf die weißliche Hand, die unter einer hölzernen Bank herausragte.
»Auf einem Friedhof liegen die Leichen in Särgen und nicht unter Bänken!« Die Sarkasmusabteilung protzte mit ihrem Wissen.
Es wäre ihr lieber gewesen, sie hätte den IQ einer leicht vertrottelten Persönlichkeit gehabt, dann hätte sie die erste Fassung akzeptieren können. Aber leider musste sie zugeben, dass diese Hand am falschen Platz war.
»Nicht die Hand, wir sind am falschen Platz. Schau, dass du Land gewinnst und lass die Toten ruhen!«
Diese Idee hatte ihre Vorteile. Hetty rappelte sich auf. Jeder normale Mensch wäre jetzt so schnell wie möglich von diesem Ort verschwunden. Hätte vielleicht noch ein paar Tage Alpträume gehabt und dann die Sache vergessen. Doch seit wann war sie normal? Während ein Teil ihrer Ganglien vernehmlich seufzte, gierte der andere nach Aufklärung. Und inzwischen hatte ihr Hirn weitergearbeitet und noch zwei Feststellungen gemacht. Die Hand sah noch nicht verwest aus. Auch war bisher noch keine einzige Fliege zu Besuch aufgetaucht. Demnach konnte diese Hand noch nicht lange tot sein. Beziehungsweise falls da noch ein Körper dazugehörte, konnte der sogar noch leben.
Da sich Hetty gut genug kannte, wusste sie, dass sie keine Ruhe haben würde, wenn sie nicht zumindest einen Blick auf das riskierte, was zu dieser regungslosen Hand gehörte. Vorsichtig ging sie auf die Knie und lugte unter die Bank. Ach du heilige Schande! Also der, der da lag, war tot. Töter als tot. Mausetot. Allerdings schloss sein Zustand auch aus, dass es sich um einen natürlichen Todesfall handelte. Zumindest hatte Hetty noch nie von jemandem gehört, der sich selbst das Messer in die Brust rammte, dann unter eine Holzbank kroch und die Waffe verschwinden ließ. Die weitere Vorgehensweise war nun ja ganz einfach. Aufstehen, zu den Häusern gehen, Telefon suchen und Polizei anrufen.
Was sie dann auch tat. Sie war schließlich in diesem Land schon oft genug in die Bredouille geraten. Inzwischen achtete sie sorgfältig darauf nicht mehr in irgendwelche gefährlichen Angelegenheiten verwickelt zu werden.
So wartete sie brav ab, bis die Polizei auftauchte, erklärte geduldig wie sie durch ihren Sturz den Toten gefunden hatte, hinterließ ihre Adresse und setzte dann einige Stunden später endlich ihren Weg fort. Sie würde sich in nichts mehr reinziehen lassen.
»Hast du deshalb der Polizei kein Wort davon gesagt, dass du den Toten schon einmal gesehen hast?«
Tja, alles musste man schließlich auch nicht erzählen. Und außerdem hatte sie ihn ja auch nicht gekannt, sondern nur erkannt – der Tote war der Mann, der sich gestern noch so fürchterlich in der Ausstellungshalle aufgeregt hatte. Hetty seufzte. War dann also doch nicht gut ausgegangen, das Ganze. Aber sie würde sich raushalten. Ganz bestimmt. Sicher!
Kapitel 4
Puh – das war ein Tag gewesen! Hetty verließ mit einem lauten Ausatmen den Aufzug. Jetzt wollte sie sich nur noch duschen, anschließend vor den Fernseher setzen, die Beine hochlegen und den restlichen Abend ihre Ruhe haben. Ihre Gedanken beschäftigten sich bereits mit einem schönen großen Glas Rotwein, als sie die Türe des Appartements aufschloss und das Wohnzimmer betrat.
»Hallo Prinzessin!«
Hetty sprang vor Schreck rückwärts und rumpelte an den Türrahmen. Den durchdringenden Schmerz in ihrem Ellbogen nahm sie nur als nebensächlichen Beweis, dass sie sich leider in der Realität befand und nicht in einem Traum, aus dem sie am liebsten schnell wieder erwachen wollte. Wenn sie nach ihrem Friedhofserlebnis eines ganz sicher nicht gebrauchen konnte, dann war das genau dieser Mann, der da hingeflegelt auf der großen Ottomane im Wohnzimmer lag und neben sich ein Glas Rotwein stehen hatte.
Nun hätten von hundert Frauen mit Sicherheit neunundneunzig sogleich verständnislos den Kopf geschüttelt und sich gegenseitig die Klinke aus der Hand gerissen, um diesen Mann zu bewundern und als erstes in seine Nähe zu kommen.
Kai, der Besitzer des Appartements, war mit seinen knappen 1.90 Metern, athletischer Figur, schmalen Hüften und breiten Schultern, alleine vom Körperbau her, schon sehenswert. Dazu kamen noch halblange schwarze Haare, die blauesten Augen der Welt, ein feingeschnittenes Gesicht und eine fast nicht sichtbare Narbe die sich über die linke Wange zog und ihm den Anschein von Verwegenheit verlieh. Wie immer war er nur in schwarz gekleidet, was seinen eher blassen Teint noch zusätzlich unterstrich.
Ihn als attraktiv zu bezeichnen, wäre blanke Untertreibung gewesen und sobald es um Kai ging, neigte selbst Hetty dazu, nicht mit Superlativen zu sparen. Das und seine sonstigen Eigenschaften statteten ihn natürlicherweise mit einem fast unerträglichen Selbstbewusstsein aus, welches dafür sorgte, dass sich alle Menschen, die mit ihm zu tun hatten, auf der Stelle in Demutshaltung begaben und sich seinen Wünschen unterordneten.
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