1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 Australien war in den zweiten Weltkrieg involviert gewesen, so wie es auch an jedem anderen Krieg, den seine Verbündeten Amerika und Großbritannien führten, teilgenommen hatte. Auch wenn das in Europa keiner wusste, war Darwin von den Japanern bombardiert worden und der fünfte Kontinent hatte panische Angst vor einer Eroberung durch die fremden Kriegsmächte gehabt. Auch Sydney war bedroht worden und hier an dieser Stelle war der kritische Punkt für einen Angriff durch U-Boote gewesen.
Hetty trabte folgsam alle in ihrem Plan aufgeführten historischen Gebäude ab, welche, wie sie nachsichtig feststellte, in Deutschland nicht einmal dem Denkmalschutz anheim gefallen wären. Doch kurz darauf wurde sie durch einen wunderbar befestigten Wanderweg entschädigt, der kurzzeitig den Eindruck vermittelte, sie wäre direkt im Busch unterwegs. Die wilden Mulgasträucher, welche den Hohlweg säumten, ließen einfach keinen anderen Schluss zu.
Am North Head wurde sie allerdings, bedauerlicherweise, mit der Diskrepanz zwischen einer wunderbaren Aussicht und dem japanischen Tourismus konfrontiert. Ein großer Bus bog auf den Parkplatz ein, stoppte mit einem ruckartigen lautem Bremsen und unzählige Japaner schwärmten ameisengleich aus, um schnell, schnell, ein paar Fotos zu ergattern. Die machten Australien in zehn Tagen.
Aufatmend folgte Hettys Blick dem abfahrenden Reisebus. Endlich Stille! Nachdem sie eine Weile dabei zugesehen hatte wie Segelboote den Durchlass zwischen Nord- und Südkliff vom Hafen zum offenen Meer passierten, setzte sie ihre Wanderung wieder fort und stand unverhofft mitten in einer modernen Prominentensiedlung. Der Rückschluss auf Reichtum war zulässig, denn die umliegenden Häuser sahen nicht gerade danach aus, als ob hier gespart worden wäre.
Sie wanderte durch die Straßen und bewunderte die architektonischen Einfälle, die sich unter anderem in verwegenen Hausfronten aus Stahl und Glas äußerten. Grinsend musterte sie den Bewuchs der Sichtbetonmauern, welche die Gebäude eingrenzten. Hauswurz auf australisch. Was in Bayern zehn Zentimeter im Durchmesser hatte, war hier eine Agave mit einem Meter Umfang. Nach einer Weile erreichte sie wieder unbebautes Gelände, hier herrschte Wildnis, eine große Grasfläche in der weiße Gumtrees blühten, Känguruhpfotenblumen und Gräser mit Fruchtständen aus blauen Beeren.
Und dort erspähte sie auf einem Hügel einen steinernen Turm zwischen den Bäumen. Natürlich musste sie wissen, wozu der gehörte. Sie ignorierte das große Schild auf dem „Privatbesitz“ stand und folgte einem kleinem Weg hügelan. Dabei kam immer mehr von dem Bauwerk in Sicht das, mit seinen Türmen und Zinnen, den Eindruck eines Märchenschlosses erweckte. Über baumumrandete Grasterrassen und Steinstufen stieg sie immer höher, bis sie schließlich einen eisernen Zaun erreichte, der das Gebäude umfasste.
Aus der Nähe betrachtet, wirkte es wie eine Kreuzung aus mittelalterlicher Burg und italienischem Palazzo. In der Mitte ragte der Turm auf, von dem zwei Seitenflügel abgingen, an denen Querbauten angrenzten. Die Frontseite wurde von Bogengängen aufgelockert, was den italienischen Eindruck erzeugte. Die Fahnen, die an den Säulen herunterhingen, waren wohl das, was Hetty ans Mittelalter denken ließ.
Das einzige, was nicht ganz zu diesem Bild passte, waren die großen Palmen, die im Hof standen. Neben dem Hauptgebäude befand sich noch eine schiefergedeckte Kirche mit einem Kreuzgang, vor der zwei weiße Oldtimer standen. Rolls Royce, soviel Hetty erkennen konnte. Wenn das nicht märchenhaft war? Fehlte nur noch der Prinz auf dem Schimmel.
»Besorge das Pferd, wir wissen genau, wer die Rolle des Reiters übernehmen kann.« Die Hormongruppe schwelgte in Erinnerungen.
Hetty sinnierte vor sich hin, als sie am Zaun entlang ging, um das Gebäude auch von der anderen Seite sehen zu können. Als Kai ihr zum ersten Mal das Leben gerettet hatte, war sie halb bewusstlos gewesen, angeschossen und dehydriert und hatte phantasiert. Er und seine Männer waren damals im vollem Galopp mit ihren Pferden zur Hilfe geeilt. Hetty hatte Hufschlag gehört und als sie die Augen öffnete, gedacht Prinz Eisenerz persönlich wäre gekommen. Na ja, Kai wäre ja auch perfekt in dieser Rolle, da konnte man schon mal daneben liegen. Seitdem hatte sie bei ihm ihren Spitznamen „Prinzessin“ weg und ihre Hirnzellen eine eindeutige Vorstellung, wie ihr Traumprinz sein müsste.
Ach Scheibenkleister! Jetzt ging das wieder los. Monatelang hatte sie jetzt einen freien Kopf gehabt und nun ergriff ihr Gehirn jede Möglichkeit, sich blöde Gedanken zu machen.
Die Sarkasmusabteilung überlegte, ob sie dazu jetzt einen Kommentar abgeben sollte. Monatelang! Seit wann sind vierundzwanzig Stunden, wenn überhaupt, ein Monat? Die Vernunft gab ihr einen Rempler und sie einigten sich darauf, dass Selbstverleugnung hier vielleicht ganz hilfreich war und lehnten sich, bis auf weiteres, still zurück.
Hetty war inzwischen auf der anderen Seite angekommen. Hier waren dann noch ein Tennisplatz und ein Basketballplatz vorhanden, sowie mehrere Wirtschaftsgebäude. Dafür gab es keinen Zaun mehr und sie konnte einfach auf der Zufahrtsstraße zwischen den Häusern entlanggehen und dann durch das große Einfahrtstor auf die Hauptstraße hinaustreten. Eine große Tafel klärte darüber auf, dass hier neben der Universität für Management, noch ein paar andere Institutionen untergebracht waren und dass man die Kirche für Trauungen mieten konnte. Ah, deshalb die Rolls Royce. Anscheinend war gerade eine Hochzeit zugange.
Na, auf das glückliche Paar würde sie jetzt nicht warten, ein Blick auf die Uhr hatte ihr gezeigt, dass es schon reichlich spät war. Und sie hatte momentan nicht die geringste Ahnung, wie lange es dauern würde, wieder zurück zur Fähranlegestelle zu kommen. Natürlich plädierte sie bei der Entscheidung zwischen der Aussichtsroute für Autos und einem als Wanderweg empfohlenem Straßenstück, für den Umweg, der im Zickzackkurs durch einen lichten Eukalypthuswald mit Farnen und Lianen hügelab führte und dann in einem Track endete.
Über eine halbe Stunde später war endlich Land in Sicht. Besser gesagt kein Land, sondern Wasser. Sprich, sie musste sich kurz darauf den Sand aus ihren Sandalen wischen, denn sie hatte über einen Sandstrand zur anderen Seite einer kleinen Bucht gehen müssen. Dort wartete eine kurze, schweißtreibende Klettertour auf sie und dann durfte sie wieder einer Teerstraße folgen.
So schön der riesige Hafen von Sydney auch war, leider war er auch hier, an seinem Ende von zahllosen Hügeln umgeben, welche dafür sorgten, dass Hetty den Unterschied zwischen Luftlinie und tatsächlicher Wegstrecke kennenlernte. Ihre Fußsohlen vermeldeten lautstark eine Überbeanspruchung, doch da sie nach wie vor nur die Flugeigenschaften eines fetten Emus hatte, gab es keine Gnade.
»Das nächste Mal lassen wir dieses North Head aus!« Da waren sich ihre Hirnfraktionen ausnahmsweise einmal alle einig.
Lieber würde sie wieder den kleinen Felsenausguck aufsuchen, der ihr erstes Ziel gewesen war. Denn der hatte den riesigen Vorteil, bisher von den Menschenmassen verschont zu werden. Denn auch in diesem Land herrschte bei den meisten Einwohnern die typisch amerikanische Verhaltensweise. Das bedeutete mit dem Auto zu einem Parkplatz zu fahren, zwei, drei Schritte zu gehen, den Ausblick zu genießen, ein paar Fotos zu schießen und gleich darauf wieder zum nächsten Punkt weiterzufahren, der im Touristenführer vermerkt war.
Und Hetty wünschte sich sehnlichst, dass niemand auf die Idee kam, auch in diese Richtung eine Fahrstraße durch die Bäume zu schlagen.
Die Rückfahrt mit der Fähre dauerte auch noch eine gute Stunde und als sie nach einem Umsteigen am Circular Quay endlich in Kirribilli ankam, war sie am Ende ihrer Kräfte. Inzwischen war sie wenigstens schon darin geübt, die vielen Stufen hochzusteigen, die vom Anlegesteg zu den Häusern hochführte.
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