»Das kann doch nicht wahr sein!«
Hetty lugte um die Ecke, um zu sehen, wer da so entsetzt aufgeschrien hatte. Ein ungefähr dreißigjähriger Mann, in Jeans und T-Shirt gekleidet, mit einer Nerd-Brille auf der Nase, stand kreidebleich vor dem Siegermodell und blätterte mit hektischen Bewegungen in der Broschüre.
Sie runzelte die Stirn. Der war ja völlig von der Rolle. Was immer er auch gehofft hatte, in dem Prospekt zu finden, anscheinend war es nicht da.
»Dieses Schwein, dieses gottverfluchte Schwein!«
Oh, oh! Hetty hatte einen leisen Verdacht. Eigentlich gar keinen so leisen. Sondern einen sehr lauten. Denn sie hatte das Gleiche schon einmal erlebt. Damals hatte eine Architektin ebenso entsetzt auf einen Plan geblickt und nicht glauben können, dass nicht ihr Name, sondern der eines anderen Architekten, als Verfasser vermerkt war.
Und sie hätte jetzt sofort um hundert Dollar gewettet, dass auch dieser Mann vergeblich seinen eigenen Namen gesucht hatte. Das erregte Telefonat, das sie anschließend noch belauschte, gab ihr recht. Doch anscheinend war das Ganze dann doch nicht so schlimm, zumindest schienen die beiden Kontrahenten eine Einigung zu erzielen. Der Schlusssatz zeugte davon.
»Gut, dann treffen wir uns heute Abend. Ich komme zu dir nach Bronte.«
Als Hetty Stunden später auf dem Sofa im Appartement saß, drehte sie nachdenklich ihr Rotweinglas zwischen den Fingern. Hoffentlich ging die Sache gut aus. Sie blickte nach oben, wo angeblich der katholische Himmel sein sollte, und prostete mit dem Wein ihren verstorbenen Nachbarn zu.
»Auf euer Wohl.«
Dank dem unverhofften Erbe, das diese ihr hinterlassen hatten, war für sie die Arbeitswelt wunderbarerweise Vergangenheit. Und sie musste sich nicht mehr mit skrupellosen Menschen herumschlagen. Ihr ehemaliger Chef war auch einer von der Sorte gewesen. Dazu hatte er sich zusätzlich noch durch völlige Unfähigkeit zur Personalführung und Inkompetenz ausgezeichnet.
Hetty schüttelte den Kopf. Dem Arsch hatte sie in schöner Regelmäßigkeit erklären müssen, dass er zwar der Chef war, aber sie selbst das Sagen hatte. Sie grinste. Spätestens, wenn sie mit der Kündigung drohte, hatte er immer klein beigegeben. Trotzdem war die Erinnerung an ihr Arbeitsleben nicht von vielen positiven Tatsachen begleitet.
Glücklich lehnte sie sich zurück und blickte auf die lichterhellte Skyline auf der anderen Seite des Hafens. Da war das hier schon viel besser!
Am nächsten Tag hatten sich die Regenwolken verzogen und der blaue Himmel versuchte vergeblich, mit dem türkisblauen Meer zu konkurrieren.
Hetty war in ihrem Element. Die Digitalkamera im Anschlag streifte sie seit über einer Stunde durch einen der schönsten Flecken, den Sydney zu bieten hatte: Den Waverley-Friedhof der auf der Klippe von Bronte lag.
Natürlich hörte es sich im ersten Augenblick etwas verquer an, ausgerechnet einen Friedhof zu einem Lieblingsort zu bestimmen. Doch seit Hetty einst, bei ihrem ersten Spaziergang von Coogee nach Bondi Beach, an dieser Grabstätte vorbeigekommen war, wollte sie schon immer einmal in aller Ruhe diesen Ort besichtigen.
Da sie dieses Mal ohne Begleitung unterwegs war, hatte sie nun endlich die Gelegenheit, solange zu bleiben, wie sie wollte. Denn auch die verständnisvollsten Mitreisenden wollten nie mehr als ein, zwei Blicke riskieren und drängten dann nachdrücklich zum Weitergehen.
Was natürlich eine absolute Verschwendung einer wunderbaren Gelegenheit war. Denn dieser Friedhof war in Hettys Augen außer großartig, nur fantastisch, atemberaubend schön, und was es sonst noch an entsprechenden Eigenschaftswörtern im Lexikon zu finden gab.
Dazu trug unter anderem die außergewöhnliche Lage bei, in der er untergebracht war. Die Anlage thronte hoch über der Küste auf einem steilen Kliff, an das mit lautem Platschen die Brandung schlug. Zur linken Seite konnte man in der Ferne Bondi erkennen, auf der rechten lag, hinter einigen Klippen, die ins Meer hinausragten, Coogee verborgen.
Der exponierte Friedhof umfasste gemäß einem Prospekt, das sie am Eingang von den Verwaltern bekommen hatte, fünfzigtausend Gräber, die auf sechzehn Hektar Gelände, mit mehreren terrassenartigen Ebenen, verteilt waren. Seit seiner Gründung war er die letzte Ruhestätte für viele prominente australische Persönlichkeiten geworden.
Im Gegensatz zu deutschen Friedhöfen war das hier allerdings keine geordnete und fein säuberlich gepflegte Anlage. Das wäre auch bei weitem nicht so interessant gewesen. Nein, hier waren die Gräber unbepflanzt und meistens ungepflegt. Hohes Gras und Wildblumen wucherten ungehemmt zwischen den Grabeinfassungen. Nur auf den Fußwegen wurde der Rasen kurz gehalten, so dass man die Grabstellen zumindest ohne Benutzung einer Machete erreichen konnte.
Hier und da sah man eine wilde Hortensie, oder einen riesigen Bauschen mit weißen Lilien. Gelb blühende Mädchenaugen und Mittagsblumen hatten manche der Grabstätten okkupiert und die Samenstände von verschiedenen Gräsern bildeten einen wunderbaren Kontrast hierzu. Einige, über das Gelände verstreute halbhohe Palmen und Norfolk Island Pinien verstärkten noch den seltsamen Eindruck, den dieser Friedhof beim Betrachter hinterließ.
Wozu auch die Teerstraßen beitrugen, welche die Anlage durchkreuzten. Kopfschüttelnd hatte Hetty bei ihrem ersten Besuch registriert, dass man hier anscheinend mit dem Auto bis zu seinen Verblichenen fahren durfte. Allerdings begegnete ihr heute kein einziger Verkehrsteilnehmer, was in ihr die Vermutung aufkommen ließ, dass es wohl eher der Fahrweg für die Bestatter war. Das war auf gar keinen Fall von der Hand zu weisen, denn wenn sie sich viel vorstellen konnte, aber nicht dass jemand einen Sarg über holpriges Gelände einen Kilometer durch die Gegend trug.
Die Gräber selbst waren mehr als außergewöhnlich. Mit Marmor oder kostbarem Gestein war hier nicht gegeizt worden. Da gab es Kreuze, um die sich Blumen rankten, Engel in jeder Größe und Form, sogar Jesusfiguren, welche wie auf dem Zuckerhut in Rio die Hände gegen den Himmel reckten. Ganze Gruppierungen von betenden Gestalten, oder Tauben, die an steinernen Rosen pickten. Besonders fantastisch fand Hetty eine kniende Frauengestalt, die ihre Arme um ein marmornes Kreuz geschlungen hatte. Die Hingabe und Verzweiflung der Frau wirkte so lebendig, dass man versucht war, ihr tröstend die Hand auf die Schulter zu legen.
Die verschiedenen Nationen hatten ebenso verschiedene Vorlieben für Inschriften oder Grabgestaltungen. Die Italiener tendierten zu eckigen Mausoleen mit goldener Inschrift. Bei den Iren durfte das Kleeblatt nicht fehlen und die waren meistens in Stelen mit wunderbar ziselierten Kreuzen integriert. Die Chinesen bevorzugten schmiedeeiserne Kreuze mit kleinen Inschriften auf Emailletafeln und bei den Engländern wurde die geliebte Mutter, der wunderbare Gemahl oder der tapfere Soldat schmerzlich vermisst. Jedes Grab hatte seine eigene Geschichte.
Oft sah man als einzigen Schmuck ein steinernes aufgeklapptes Buch, in dem nur die Namen der Begrabenen verzeichnet waren und manchmal wurde, statt einer einfachen Steinplatte, ein zweifarbiges schachbrettförmiges Mosaik aus unterschiedlichem Marmorplättchen als Grabbedeckung verwendet. Mittendrin war dann wieder eine absolute Besonderheit zu entdecken, wie ein Blütenkranz aus bunten Gestein geformt.
Hetty konnte sich einfach nicht sattsehen. Langsam ging sie von Grab zu Grab und las die Inschriften. Manche waren herzergreifend, andere sehr sachlich und eher distanziert.
Die Witterung und das Salz des Meeres hatte dafür gesorgt, dass Teile der steinernen Pokale die manche Gräber zierten, zersprungen waren. Irgendjemand ging hier dann anscheinend immer wieder durch und legte die Bruchstücke in das betreffende Grab.
Gruselig war dabei, dass es auch etliche geköpfte Engelsfiguren gab. Hetty musterte die frischen Bruchspuren und überlegte, ob das hier durch Vandalismus, oder tatsächlich durch das Wetter verursacht wurde.
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