Nachdem sie noch eine kurze Einkaufstour gemacht hatte, um den leeren Kühlschrank aufzufüllen, nahm sie äußerst zufrieden in einem bequemen Sessel vor der riesigen Panoramascheibe Platz und genoss bei einem Glas Rotwein den Sonnenuntergang. Die Skyline von Sydney wurde nach und nach von Lichtern erleuchtet und die Aussicht wurde von Minute zu Minute noch eindrucksvoller. Seufzend lehnte sie sich zurück und nahm einen Schluck aus ihrem Glas. Hier ließ es sich wirklich aushalten. Man konnte sagen, was man wollte, mit Geld konnte man sich zwar nicht alles, aber immerhin einiges kaufen.
Als es dunkel wurde, war sie hin und hergerissen zwischen dem großen Flachbildschirm mit Satellitenempfang und den Büchern, die sie in zwei wandhohen Regalen vorgefunden hatte.
»Fernsehschauen können wir jeden Tag!«
Dann war nur noch das Problem vorhanden, dass sie zu viele interessante Bücher fand. Doch schließlich war die Auswahl getroffen und sie schmökerte, bis tief in die Nacht, in wahren Kriminalberichten der australischen Polizei, was natürlich am allerbesten half, nicht an den Besitzer der Wohnung zu denken.
»So wie Kochbuchlesen vom Hunger ablenkt!«
Kapitel 2
Am nächsten Tag erfuhr sie bei ihrem Telefonat mit Kurt, dass die Reparatur wohl länger dauern würde. Das Ersatzteil war zwar bestellt, aber bis das eintraf konnte einige Zeit vergehen. Schließlich wurde ein Hanomag nicht in Australien produziert und auch in Deutschland waren Zubehörteile nicht von heute auf morgen zu finden. Na ja, das machte ihr jetzt dann weniger aus. Sssissi, ihre Schlange, die in einem Terrarium im Camper lebte, hatte zum Abschied noch eine Maus bekommen, die würde sie die nächste Zeit sicher nicht vermissen.
Hetty lächelte. Das Tier lag die meiste Zeit nur faul auf einem flachen Stein und schlief den Schlaf des Gerechten. Und der war wohlverdient, schließlich würde sie heute nicht hier stehen können, wenn die Schlange nicht ihren Entführer gebissen und dadurch auf kurzem Weg ins Jenseits befördert hätte. Allerdings hatte das Reptil dabei eine Verletzung davon getragen, die ein weiteres Leben in der Wildnis ausschloss.
Da Hetty wusste, was Dankbarkeit bedeutet, hatte sie die hochgiftige King Brown kurzerhand in eine Styroporbox gepackt und später dann von Paul dieses Terrarium in ihren Camper einbauen lassen, wodurch die Mulga ein sehr angenehmes Asyl gefunden hatte. Und da sie selbst nun ein kostenloses und wundervoll komfortables Quartier hatte, war somit jeder Camperinsasse bestens versorgt und sie konnte endlich einmal Sydney in aller Ruhe genießen.
»Ich habe gedacht wir genießen!« Ihr Verstand beschwerte sich lautstark, als Hetty voller Eifer die neuesten Wanderkarten begutachtete, die das Touristencenter ausgelegt hatte.
»Na ja, ein bisschen Bewegung schadet uns auch nicht«, gab die Vernunft zurück.
»Ein bisschen, okay, aber schau doch mal, die will mit uns den ganzen Hafen umrunden!«
Das war natürlich übertrieben, alleine schon deswegen, weil Sydneys mäanderförmiger Hafen so groß war, dass die Wanderwege die um ihn herumführten, sich auf einige hundert Kilometer beliefen. Und wenn Hetty auch gerne wanderte, das war dann sogar ihr zuviel. Aber es sprach nichts dagegen, sich die einzelnen Abschnitte häppchenweise vorzunehmen.
Nach kurzem Überlegen hatte sie sich deshalb den Monats-Multipass zugelegt, der nicht sehr viel mehr als der wöchentliche kostete. Mit diesem konnte sie, soviel sie wollte, so oft sie wollte, mit sämtlichen Fähren, Bussen und Eisenbahnen im Umkreis von Manly bis Parramatta fahren. Wenn man bedachte, dass die Fähre in die eine Richtung gute fünfunddreißig Minuten und in die andere Richtung fast eine Stunde brauchte, dann wurde erst richtig verständlich wie groß das Gebiet eigentlich war, welches dieser Pass für relativ wenig Geld abdeckte.
Auf den Wanderkarten waren praktischerweise auch immer die Buslinien eingetragen, was das Tourengehen leichter machen würde. So konnte sie mit der Fähre losfahren, dann wandern und mit dem Bus wieder zurück zu ihrem Ausgangspunkt kommen. Dadurch brauchte sie ihre Wanderstrecken nur einfach gehen und konnte viel mehr Strecke an einem Tag bewältigen.
»Ich habe euch doch gesagt, die macht mit uns den ganzen Hafen!«
Da am nächsten Tag Samstag war, begann sie ihre Unternehmungen allerdings mit einem Besuch des Rock Marktes. Die Rocks waren das älteste Stadtviertel von Sydney und lagen gegenüber der Oper am Fuß der Harbour Bridge. Hier waren einst die ersten Siedler an Land gegangen und hatten sich mühsam mit ihren Spitzhacken einen Weg durch den Felsen geschlagen. An einem Durchgang unter der Hauptstraße waren immer noch die Spuren der Pickel in den Felswänden zu sehen.
Dahinter befand sich linker Hand, auf einem kleinen Hügel, das Observatorium von Sydney, das neben einem wunderbaren Ausblick auf den Darling Harbour auch einige schöne große alte Bäume zum Bestaunen bot. An den wenigen Öffnungstagen konnte man hier, gegen eine geringe Eintrittsgebühr, in der Nacht den Sternenhimmel beobachten. Auf der anderen Seite standen alte Häuser in der typischen Verandabauweise mit schmiedeeisenverzierten Geländern und Balkonen. Natürlich hatten alle das obligate Blechdach, das nach wie vor in weiten Teilen Australiens vorherrschte.
Gegenüber der Straße ragte noch eine, gar nicht so kleine Kirche in die Höhe, deren große Holztore für etwaige Besucher weit geöffnet waren. Als sie das Gotteshaus das erste Mal besichtigt hatte, war Hetty vor allem die äußerst karge Ausstattung aufgefallen, denn von den bayrischen opulenten Kirchen verwöhnt, hatte sie die doch sehr spärliche Dekoration ziemlich verwundert. Inzwischen wusste sie, das dies typisch für Australien war und die meisten Kirchen wenig Schmuck, dafür aber um so mehr Fahnen besaßen.
Die eigentlich als Rocks bezeichnete Zone waren die ursprünglichen Lagerschuppen, in denen man früher die Waren für die Schiffe eingelagert hatte. Inzwischen waren die alten Gebäude hervorragend renoviert und instandgesetzt worden. Die Architekten hatten in die alte Bausubstanz mit viel Geschick und Feingefühl Läden und Restaurants eingebaut, die immer noch das alte Flair spüren ließen.
In zwei der Seitenstraßen wurde jedes Wochenende der Markt aufgebaut. Hier gab es für gutes Geld, ebenso gute Ware zu kaufen. Kunsthandwerk in allen Varianten, Kosmetikartikel, Kleidung und natürlich auch lauter feine Sachen zum Essen. Da es von hier nur ein kurzer Fußweg zur Hafenpromenade am Circular Quay, dem zentralen Verkehrsknotenpunkt Sydneys war, drängten sich die Touristen in Massen durch die engen Gänge zwischen den Buden.
An einer Ecke sprühte ein von staunenden Zuschauern umgebener Airbrusher bunte Bilder. Hetty schaute auf den Preis und schluckte kurz. Wenn sie bedachte, dass nach ihrer ersten Reise, ihr Camper für wenig Geld und viel Bier komplett neu lackiert worden war, hatte sie ihren Sprayer weidlich ausgenützt. Damals hatte ihr Fahrzeug sein jetziges Dschungeldesign bekommen auf dem sich links und rechts über die ganze Wagenlänge eine Mulga ringelte, die ein genaues Abbild ihrer Sssissi war. An einer, etwas verborgenen, Stelle war dann noch ihr zweiter Talisman untergebracht – ein Flughund, der sich durch blaue Augen und einer feinen Narbe über der linken Wange auszeichnete.
Allerdings hatte ihr dieser Witz, auf Kosten von Kai, einen äußerst unangenehmen Moment beschert. Woher sollte sie auch wissen, dass ihr Zusammentreffen mit ihm nicht das einzige und letzte Mal gewesen war? Und ihr Lebensretter hatte dann natürlich, bei Sichtung der Lackierung, auch sofort erkannt, dass der Flughund auf ihn gemünzt war. Schließlich wusste er ja, dass er bei Gesprächen zwischen seiner Ziehschwester und Hetty unter dem Spitznamen Graf Dracula geführt wurde.
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