»Wollen wir jetzt noch weiter in Erinnerungen schwelgen, die eh nichts bringen, oder was?«
Sie verscheuchte die Gedankenspielereien und schlenderte weiter die High Street entlang. Nachdem die Felsen vom Rock, auf denen kleine alte Häuser thronten, zu Ende waren, begannen sich im Hintergrund schon die ersten Wolkenkratzer zu erheben. Noch eine Reihenhausanlage im alten Stil, die etwas surrealistisch wirkte, da direkt dahinter die Glasfassade eines Hochhauses in die Höhe ragte und dann war man schon mitten in der City, oder besser gesagt am Rand des Darling Harbour. Dort hatten sie inzwischen ein zweites Übersee-Terminal erbaut, da das am Circular Quay nicht mehr für den Ansturm der Besuchermassen ausreichte.
Denn Sydney war nach wie vor die schönste Stadt auf der Welt und diesen Anblick wollte sich kein Tourist entgehen lassen. Auch heute lag hier ein großes Kreuzfahrtschiff vertäut, dessen Gäste nur über die Treppe runter stolpern mussten, um mitten im Geschehen zu sein. Die alte Kings-Wharf war mit neuen Restaurants und einer breiten Fußgängerpromenade aufgemotzt worden, die zum Sydney Aquarium und Wildpark führte. Und von dort zum Rest des Darling Harbour.
Wer hier kein Lokal nach seinem Geschmack fand, der hatte keinen. Für jede Preisklasse war etwas vorhanden und von der Variante Foodcourt, Take Away, Selbstbedienungslokal, kleinen Bistros und gepflegten Gaststätten bis hin zu exklusiven Restaurants war alles da, was man brauchte. Dazu gab es noch etliche ausgediente und auf Dauer verankerte Schiffe, die zur Bewirtung dienten.
Der Skyline der City gegenüber lagen mehrere große Hotelgebäude und die Mall, die an den Hafen grenzte. Von hier aus konnte man dann zum Fischmarkt bummeln, ins Chinesenviertel gehen oder einige der Vergnügungsanlagen aufsuchen, die auf dem weitläufigen Gelände verstreut waren. Hetty gefielen vor allem die Wasserspiele, die vor der Mall in einem schneckenförmig nach unten führenden Wasserlauf endeten.
Und hier machte sie dann auch eine ausgedehnte Pause und vertrieb sich die Zeit damit, die umher flanierenden Leute zu beobachten. Auf den hölzernen Sitzstufen konnte man nebenbei auch noch den Motorbooten zusehen, die unter der Brücke in den kleinen Hafen einbogen, eine Runde drehten und dann wieder hinausfuhren. Es war für viele Sydneysider ein gängiges Vergnügen, mit einem alkoholischen Getränk in der Hand, im Heck des Schiffes zu stehen und sich mit den anderen Gästen an Bord angeregt zu unterhalten, während der Bootsführer von einer Bucht und Anlegestelle zur nächsten schipperte.
Hetty konnte sich dieses Unterhaltungsprogramm allerdings nicht leisten, aber sie nutzte die Alternative für Arme reichlich aus. Sobald sie eine der grüngelben Hafenfähren sichtete, ging sie auch schon an Bord und genoss die Fahrt zu den verschiedenen Anlegestellen. Die Farbgebung war an die australischen Nationalfarben angepasst – gelb für die Blüten der Akazien und grün für das Land. Da alle Fähren auch wieder an ihren Ausgangsort zurückfuhren konnte sie Dank ihres Multipasses, so viele Hafenrundfahrten machen, wie sie wollte. Der Circular Quay war der Start- und Endpunkt jeder Fährfahrt und von da aus ging auch alle zwanzig Minuten ihre Fähre nach Kirribilli. So war sie, wenn sie wollte, auch schnell wieder in ihrem neuen Zuhause.
Was sie nach ihrem ausgedehnten Stadtrundgang dann auch nötig hatte. Ihre Fußsohlen brannten, und sie freute sich auf eine kalte Dusche. An die Stufen, die von der Anlegestelle zum Appartement hochführten, und den daran anschließenden Anstieg der Teerstraße, musste sie sich allerdings erst noch gewöhnen. Momentan keuchte sie wie eine alte Dampflok und spürte jede Minute ihres Alters. Aber Sydneys Hafen war rundherum mit lauter kleinen Hügeln gesäumt und der Preis für die tolle Wohnlage, der darauf erbauten Häuser, war eben ein schweißtreibender Fußmarsch.
Kapitel 3
Das hielt sie allerdings am nächsten Morgen und die folgenden Tage keineswegs dazu an, sich in ihren Ausflügen zu mäßigen. Erst ein Regentag sorgte dafür dass sie, nach einem kurzen Blick aus dem Fenster, beschloss einmal richtig lang auszuschlafen. Beim späten Frühstück blätterte sie in der Infobroschüre der Stadt, in der auch aufgeführt war, was es alles an Museen und Ausstellungen gab. Sie musste zu ihrer Schande gestehen, dass sie es bisher noch nie geschafft hatte, sich in eines der Gebäude zu begeben. Das war der Nachteil vom schönen Wetter – man kam überhaupt nicht auf die Idee etwas anderes zu tun, als sich im Freien aufzuhalten. Aber nun war die Gelegenheit gekommen, sich auch etwas Kultur und Bildung angedeihen zu lassen.
Eine Stunde darauf stand sie im Stadtmuseum am Circular Quay und betrachtete interessiert die alten Fotos und Bilder von Sydney. Das war schon ein Riesenunterschied, von den ärmlichen Behausungen der ersten Siedler, zum heutigen City-Leben. Und eine Rattenplage hatten die gehabt! Hetty bestaunte kopfschüttelnd ein Foto, auf dem zwei Männer neben einem Riesenberg von toten Ratten gezeigt wurden. Aus dem danebenhängenden eingerahmten Zeitungsartikel ging hervor, dass man dann dazu übergegangen war, nur noch die abgeschnittenen Rattenschwänze bei der Abholung der Belohnung vorzulegen. War ja schließlich auch blöd, wenn ein besonders fleißiger Mensch, mit einer Schubkarre voller toter Nagetiere zu der Behörde hinfuhr. Schwänze zählen, war da effektiver.
Als sie über zwei Stunden später wieder im Freien stand, kam sie sich vor wie nach einer Zeitreise. Da war ihr die jetzige Stadt schon viel lieber. Sie warf einen Blick auf das Opernhaus. Ohne dieses weltbekannte Wahrzeichen konnte sie sich Sydney sowieso nicht vorstellen. Dabei wusste sie ganz genau, dass dieses erst fertiggestellt wurde, als sie selbst schon erwachsen war, also war es noch gar nicht solange her, dass sich die Hafenansicht verändert hatte.
Die Stadtentwicklung war in den letzten Jahrzehnten galoppiert. Ein Plakat an einer der Hinweissäulen am Quay zeigte, dass immer noch kein Ende in Sicht war. Anscheinend war ein großer Architektenwettbewerb ausgeschrieben worden und nun stand der Sieger fest und die Modelle von ihm und seinen Mitbewerbern konnten besichtigt werden. Das war jetzt wirklich etwas, das sie interessierte. Schließlich hatte sie in ihrem früheren Leben eine halbe Ewigkeit in einem Architekturbüro als technische Zeichnerin gearbeitet. Kurz darauf war sie auch schon in der Ausstellung und bummelte zwischen den einzelnen Modellen hin und her.
So wie es aussah, war das Prozedere in der ganzen Welt das gleiche. Ein Haufen Leute machten sich eine Menge Arbeit und hängten ihre ganze Seele in den Entwurf. Dann kamen die Juroren. Die zeichneten sich normalerweise dadurch aus, dass sie keine Ahnung von irgendetwas hatten, und schon gar keine Ahnung von Architektur. Deswegen hatten sie dann noch Berater dabei – Architekten die bei dem Wettbewerb, aus welchen Gründen auch immer, nicht mitgemacht hatten. Die urteilten natürlich absolut neutral, vorurteilsfrei und ohne jegliches Konkurrenzdenken, über die Entwürfe ihrer Kollegen.
Schließlich wurde ein Konsens gefunden und zielsicher das Modell gewählt, dass mit Abstand das Grauenhafteste war. Hetty musterte das Sieger-Objekt und schüttelte verblüfft den Kopf. Anscheinend tickten in Australien die Uhren anders. Hier hatte doch tatsächlich eine gelungene Arbeit gewonnen. Dieser Architekt war ein Könner. Er hatte die in ihren Augen beste Lösung für die Aufgabe ausgearbeitet – eine geglückte Kombination aus alt und modern. Neben dem Modell waren Broschüren ausgelegt, in denen konnte man sich noch näher informieren. Hetty nahm sich eine mit und setzte sich in die kleine Sitzecke, die schneckenförmig angeordnet war. Hier konnte sie ungestört schmökern, denn die hohe Rückenlehne machte sie für die anderen Besucher nahezu unsichtbar.
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