„Selbstverständlich, Herr Schlüter“, nicke ich gehorsam. „So, jetzt muss ich aber wirklich ...“
„Ja, ja“, murrt er, hat sich jedoch schon umgedreht und schlurft zurück in seine Wohnung.
Zutiefst erleichtert atme ich auf. Gerade noch mal gut gegangen. Zwei Tage Galgenfrist, in denen ich mir überlegen kann, wie ich das Geld für die Miete auftreibe. Doch kaum ist die Tür hinter dem alten Raffzahn zugefallen, wird mir klar, dass die vertrödelte Miete nicht mehr das Einzige ist, was mir Kopfzerbrechen bereiten sollte.
*
Wenn ich sonst von einem Shoppingausflug nach Hause komme, vertreibe ich mir die Zeit meistens damit, meine Neuerwerbungen in Ruhe auszupacken, die Preisschilder zu entfernen und mich zu meiner vortrefflichen Wahl zu beglückwünschen. Klamotten oder Schuhe probiere ich sofort noch einmal an, anschließend durchforste ich meinen Kleiderschrank nach möglichen Kombinationen und mein Schmuckkästchen nach passenden Accessoires. Beispielsweise ist eine gut sitzende Jeans nur die halbe Miete. Erst in Zusammenhang mit einem eleganten Gürtel oder einem hippen Top verleiht man ihr den letzten Schliff. Gleiches gilt für Schuhe. Ein Paar Stilettos machen rein gar nichts her, wenn sie nicht mit der perfekt dazu geschnittenen Hose getragen werden. Um herauszufinden, welches Outfit besonders gut zusammen aussieht, braucht man viel Geduld, und dafür kann schon mal ein ganzer Nachmittag draufgehen.
Ähnlich verhält es sich mit Dekorationsgegenständen. Auch damit beschäftige ich mich nach deren Kauf ausgiebig. Kerzenständer ist schließlich nicht gleich Kerzenständer. Der Platz, an dem man ihn aufstellt, will gut überlegt sein. Mitten auf dem Tisch kann er regelrecht protzig erscheinen, wohingegen er zwischen zwei Vasen auf dem Bücherregal nur dezent ins Auge fällt. Wohnaccessoires wirkungsvoll einzusetzen ist eine Wissenschaft für sich und damit keine Sache, die man angehen sollte, wenn man in Eile ist.
Etwas völlig anderes ist es mit Anschaffungen, die man notgedrungen und weniger zum Vergnügen kauft, wie eine neue Kaffeemaschine, weil die alte ihren Geist aufgegeben hat, oder ein technisch verbesserter Epilierer, weil das Vorgängermodell nicht gründlich genug war. Damit halte ich mich für gewöhnlich nur kurze Zeit auf und ärgere mich oftmals, dass ich überhaupt kostbares Geld dafür verschwenden musste.
Heute jedoch wäre ich sogar für eine neue Klobürste dankbar. Ohne eine einzige Tasche meine Wohnung zu betreten fühlt sich sehr befremdlich an. Nachdem ich meine Handtasche an die Garderobe gehängt habe und aus meinen Schuhen geschlüpft bin, stehe ich barfuß und ziemlich ratlos in meinem Flur. Was soll ich denn jetzt den ganzen Nachmittag über tun? Herumsitzen und Däumchen drehen? Seufzend fahre ich mir durchs Haar, tapse in die Küche und gieße mir erst mal ein Glas kaltes Wasser ein. Das ist zwar kein Zeitvertreib, die Erfrischung tut nach der Hitze im Auto trotzdem gut. Sobald ich das Glas ausgetrunken habe, fühle ich mich genauso leer. Es kommt mir ungewohnt still in meiner Wohnung vor. Bis auf das ätzend laute Ticken der Küchenuhr. Komm schon, Mia! Es muss irgendetwas geben, womit ich die restlichen Stunden des Tages totschlagen kann. Bloß, weil ich mal nichts gekauft habe, hat mein Leben nicht gleich jeden Sinn verloren! Das wäre ja noch schöner! Also gut. Ich könnte ... eine Waschmaschine anschmeißen. Die Küche aufräumen. Mal wieder ordentlich durchsaugen. Das Bett beziehen. Oder endlich die Wintersachen von der Garderobe abnehmen. Mein Blick fällt auf meine George-Gina-and-Lucy-Tasche, die im Flur am Haken baumelt. Mit einem Zwicken im Magen denke ich an die gesperrten Kreditkarten, die ungenutzt in meinem Portemonnaie schlummern. Möglicherweise sollte ich deswegen irgendetwas unternehmen. Nein, ich kümmere mich erst um die Handschuhe, den Schal und die Mäntel. Wenn ich die Klamotten jetzt nicht im Schrank verstaue, hängen sie noch bis zum nächsten Spätherbst da. Nicht wahr? Unschlüssig bleibe ich in der Küche stehen. Dein Geldproblem löst sich nicht von allein, Mia, flüstert eine kleine Stimme in meinem Kopf, die garantiert diesen verdammten Kontoauszügen gehört, die anklagend auf dem Grund meiner Tasche liegen, weil ich ihnen nicht die nötige Beachtung schenke. Quatsch! Geldproblem! Dass ich nicht lache. Vielleicht eine kurze monetäre Durststrecke, mehr nicht. Das wird sich im Handumdrehen wieder geben, da bin ich mir ganz sicher. Vorsichtig schiele ich zur Schublade neben dem Kühlschrank. Die paar Rechnungen, die habe ich schnell aufgemacht. Kein großes Ding. Wo ich sowieso nichts Besseres zu tun habe. Ja, ich sehe schnell nach, wem ich wie viel schulde. Dann werde ich auch sehen, dass alles nur halb so schlimm ist. Wozu den Teufel an die Wand malen, wenn man sich lediglich auf Spekulationen berufen kann? Ich nehme all meinen Mut zusammen und ziehe beherzt die Schublade auf. Sofort stolpere ich zurück. So viel??!! Ganze Berge von Briefumschlägen aller Größe und Farbe quellen mir entgegen. Wo kommen die denn alle her?! Vor lauter Schreck gebe ich der Lade einen heftigen Stoß, sodass sie geräuschvoll wieder zufällt. Oh Gott! Die Idee, unliebsame Rechnungen zu verstecken, in der Hoffnung, sie würden sich eines Tages in Luft auflösen, war vielleicht doch nicht ganz so gut. Na schön, bringen wir es hinter uns. Mit rasendem Puls und zugekniffenen Augen ziehe ich erneut am Griff der Schublade und blinzele zaghaft hinein. Leider habe ich beim ersten Mal nicht halluziniert. Sie ist immer noch bis zum Rand gefüllt. Sie werden nicht verschwinden, nur indem du sie anstarrst und verfluchst!, ermahne ich mich. Also greife ich mit feuchten Händen hinein und ziehe einen großen Packen Umschläge heraus. Ich bin froh, als ich damit am Küchentisch sitze. Meine Beine drohten schon nachzugeben. Zur Sicherheit kontrolliere ich zunächst auf jedem Brief, ob auch wirklich mein Name im Adressfeld steht. Womöglich wurden sie versehentlich bei mir eingeworfen, und einer meiner armen Nachbarn wundert sich seit Wochen, weshalb er keine Post mehr bekommt. Zu meinem Bedauern ist überall mehr oder weniger deutlich meine vollständige, korrekte Adresse zu lesen. Toll! Selbst auf die Unzuverlässigkeit der Post kann man sich nicht mehr verlassen. Letzten Endes sehe ich ein, dass ich nicht darum herumkomme, die Briefe aufzumachen. Deshalb mache ich kurzen Prozess, hole mir ein Küchenmesser, schlitze sämtliche Umschläge nach der Reihe auf, ziehe alle Anschreiben heraus und breite sie vor mir auf dem Tisch aus.
Dann packt mich das Grauen.
Die meisten Zettel überfliege ich nur, doch die wenigen Worte, die ich erfasse, wecken in mir den sehnlichsten Wunsch, ich hätte mir vorhin statt Wasser ein Glas Wodka genehmigt.
Satzfetzen wie „Mahnbescheid“, „unverzüglich auf unser Konto zu überweisen“, „letzte Zahlungsaufforderung“, „sehen wir uns gezwungen, juristische Maßnahmen einzuleiten“ stechen mir ins Auge. Mein Magen krampft sich schmerzhaft zusammen. Und der Schrecken nimmt kein Ende. Denn erst auf den zweiten Blick entdecke ich die vielen Zahlen, die unter jedem Schreiben stehen.
182,93 ,-
329,23 ,-
40,95 ,-
218,34 ,-
1099,99 ,-
Entsetzt starre ich auf die letzte Summe. Eintausendneunundneunzig Euro?! Zweifellos.
Für
1 x Sony Audio Hifi-Kompaktanlage, Limited Edition, Anthrazit-Perleffekt, ausgeliefert von Amazon EU S.a.r.L.
Wie gelähmt halte ich die Rechnung in der Hand. Wozu brauchte ich die Sonderedition einer anthrazitschimmernden Hifi-Anlage? Hätte es klassisches Schwarz nicht auch getan? Mit bebenden Fingern lasse ich das Papier sinken und schließe für einen Moment die Augen. Ein Alptraum. Das muss es sein. Jeden Moment werde ich in meinem gemütlichen, weichen Bett mit der zinnoberroten Bettwäsche liegen und mich über diesen verrückten Traum amüsieren, in dem mich zwei gesperrte Kreditkarten und eine Schublade voller unbezahlter Rechnung verfolgten. Ich warte. Und warte. Aber so sehr ich mich auch anstrenge, ich wache nicht auf. Natürlich nicht. Das hier fühlt sich viel zu real an, um als Alptraum durchzugehen. Der wäre nicht einmal halb so grausam. Plötzlich entdecke ich zwischen all den schreckensverbreitenden Briefen einen schlichten grauen Umschlag, der keinen Absender trägt. Hm, der sieht harmlos aus. Bestimmt habe ich ihn aus Versehen mit in die Schublade gesteckt. Es könnte eine Benachrichtigung sein, dass ich in einem Preisausschreiben gewonnen habe! Na gut, ich habe an keinem teilgenommen. Dann vielleicht eine Einladung zu einem Ausverkauf im Outletstore. Neugierig reiße ich das Kuvert auf – und bereue es augenblicklich. Jetzt ist klar, von wem das Schreiben stammt. Sein Logo leuchtet mir in all seiner Größe von der rechten oberen Ecke entgegen: Stadtsparkasse Altenkirchen.
Читать дальше