Luise Lunow - Auch eine Rosine hat noch Saft

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Luise Lunow ist Schauspielerin. 1932 in Babelsberg geboren erlebt sie den Bomben-Krieg und den Hunger der Nachkriegszeit, pendelt täglich zwischen Ost- und Westberlin und erfüllt sich ohne Geld und fremde Hilfe ihren großen Wunsch, Theater zu spielen. Sie steht auf der Bühne, ist in den Synchronstudios zu Hause, spricht mit ihrer markanten Stimme Hörspiele und Hörbücher. Sie drehte mit Loriot, begeisterte besonders ihr jungen Hörer mit dem Rap «Enkelschreck» und stand mit den «Die drei ???» auf der Bühne. Nun hat sie ihr ungewöhnliches, spannendes Leben in ernsten und heiteren Episoden aufgeschrieben. Es ist ein Leben zwischen Ost und West – zwischen Lebensfreude und Enttäuschung – eben ein gelebtes Leben.

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Zeitzeugen

Auch eine Rosine

hat noch Saft

von

Luise Lunow

oder

80 Jahre zwischen Ost und West, Bomben und Theater

»Einmal am Tag freut man sich,

dass man am Leben ist und noch nicht tot.

Das ist ein unwahrscheinliches Kapital.«

Thomas Bernhard

Inhalt

Kopfüber ins Leben

Es wird dunkel in unserer Stadt

Die Russen kommen

Frieden

Familie

Erna – ein Leben ohne Beine

Der gelbe Stern

Geborgenheit

Ein Spatz, ein Dorf und andere Begebenheiten

Vater

Meine Mutter

Gestörte Träume

Verliebt

Ein Paar rosa Spitzenschuhe

Schock

Kunst im Doppelpack

Pendeln zwischen Ost und West

Riskante Begegnung

Endlich Schauspielerin

Theaterleben

Nach Schwerin ans Staatstheater

Schwierige Zeiten und Neustart

Die Mauer

Gekreuzte Lebenspläne

Neue Erfahrungen

Maxim-Gorki-Theater

Atmosphären

Blick nach drüben

Kontrollierter Urlaub

Fahrrad-Klau in Westberlin

Ferien

Auschwitz

Stahnsdorf

Katzen

Kurioses

Traumwohnung – mit Schönheitsfehler

Leben

Manche Seefahrt, die ist lustig

Harter Entschluss

Abschied

Westberlin

Ankunft

»Wahnsinn«

Neustart

Lehrstunde: Paris

Theater – Theater

Praxis mit Vergangenheit

Publikumsrenner

Kater Moritz

Unheilbar deutsch

Die im Dunkeln sieht man nicht

Drei Fragezeichen und ein Enkelschreck

Fazit

Kopfüber ins Leben

Immer, wenn ich als Kind den Hasensprung durchquerte, einen schmalen Weg, der zwei edle Wohngegenden in Berlin-Grunewald miteinander verbindet, habe ich auf die prachtvollen, parkähnlichen Gärten der Villen rechts und links geschaut, die, durch hohe Zäune gesichert, kaum einen Blick auf die dahinterliegenden Seen freigaben. Ich lief mehrmals wöchentlich nach kurzer S-Bahn-Fahrt zu meiner Tante Alice, die nicht in einem dieser wunderschönen Häuser rund um die Seen wohnte, sondern in einem der kleinen einfachen Siedlungshäuser in der Reinerzstraße, wo es sich in den Gärten voller Apfel- und Kirschbäume, Sträuchern mit Johannisbeeren und vielen bunten Blumen so wunderbar spielen ließ. Mitten im Hasensprung überspannte eine kleine Brücke ein schmales Fließ zwischen Königs- und Dianasee, auf der zwei springende Hasen rechts und links dem Weg seinen Namen gaben.

Nie hätte ich geglaubt, dass ich einmal in einem dieser Häuser am See wohnen würde, und wenn ich heute an meinem Fenster stehe und an sonnigen Tagen die Schwäne auf dem Königssee beobachte, ist dieser Blick fast kitschig schön, beinahe unwirklich und macht mich traurig und glücklich zugleich. In der Großstadt Berlin, nur einen Kilometer vom Ku'damm entfernt, mit so einem Ausblick wohnen zu dürfen, halte ich für ein ganz besonderes Geschenk in meinem Leben, das mir keineswegs in die Wiege gelegt wurde.

Aber – ich bin ein Sonntagskind. Allerdings war es ein Sonntag, der 13., als ich geboren wurde, und so geht es in meinem Leben stets zu, wie auf einer Achterbahn, mal rauf, mal runter und um äußerst gefährliche Kurven. Eben stehe ich noch glücklich in der Sonne, platsch, liege ich in der Pfütze und versuche verzweifelt zu schwimmen. Meine Mutter hat sich während ihrer Schwangerschaft mit mir fast nur von Apfelsinen ernährt und so wurde ich ein Apfelsinenkind, voll südlicher Sonne, heiter, optimistisch und mit großer Lebensfreude. Auch ein bisschen von der kindlichen Naivität ist mir durch all die Jahre erhalten geblieben und der unerschütterliche Glaube an das Unerwartete, das Schöne, das Besondere, das im Leben immer noch kommen könnte …

Schon als Baby im Kinderwagen war ich neugierig auf die Welt und beobachtete mit großen Augen alles, was um mich herum geschah.

Kaum konnte ich laufen, bestand ich darauf, allein zum Bäcker zu gehen und die morgendlichen Schrippen zu holen. Begegnete ich dabei Nachbars Schäferhund, bot ich ihm ein frisches Brötchen aus meiner Tüte an, doch er leckte es nur ab und ließ es fallen, sodass ich es enttäuscht wieder aufhob und zum Frühstück nach Hause brachte.

Geboren wurde ich in Nowawes. Wo das liegt? Zwischen Potsdam und Berlin und es trägt heute den schönen Namen Babelsberg. Friedrich der Große siedelte dort Mitte des 18. Jahrhunderts böhmische Weber mit der Heimatsprache Tschechisch an und nannte es Nowa wes, also »Neues Dorf«. Als kleiner Vorort – dicht angeschmiegt an Potsdam, unmittelbar neben Berlin – trug er fast 200 Jahre bis 1938 diesen Namen und besitzt neben einem prächtigen Rathaus und vielen alten Weberhäuschen einen wunderbaren naturbelassenen Park mit einem verwunschenen Schloss und das berühmte Filmgelände der ehemaligen UFA.

Wir bewohnten dort fernab von allem Glimmer nur eine schmale Stube mit einer nicht beheizbaren Kammer im oberen Stockwerk eines kleinen, zweistöckigen Hauses in der schmalen Gasse Bäckerstraße Nr. 5. Und in dieser Stube erblickte ich das Licht der Welt. Nun ja, von Licht kann man allerdings kaum reden, denn es bestand nur aus einer schwachen Glühbirne, die meine Geburt beleuchtete. Doch ich kämpfte mich tapfer aus dem warmen Bauch meiner Mutter kopfüber hinaus, begrüßte nach stundenlanger harter Arbeit die Welt mit einem hellen Jubelschrei und wurde ihr in die liebevollen Arme gelegt, von denen ich mich zeitlebens gewärmt und beschützt fühlte. Die ersten vier Jahre verbrachte ich in dieser engen, kalten Wohnung im Dachgeschoss, wollte unbedingt in den Kindergarten gleich nebenan, um mit den vielen Kindern zu spielen, packte dort aber bereits am ersten Nachmittag meine Sachen wieder zusammen, nahm meine Mutter an die Hand und sagte fest entschlossen: »Hier gehe ich nie wieder hin, hier ist es doof, hier müssen alle Kinder stillsitzen!« Ich musste auch nicht, denn meine Mutter war wie mein Vater arbeitslos und freute sich darauf, den Tag mit mir verbringen zu können. Es war die Zeit der großen Arbeitslosigkeit und mein Vater, ein gelernter Lackierer, durfte sich wöchentlich ganze fünfzehn Mark für seine Familie von der Stempelstelle abholen. Zwar versuchte meine Mutter unsere Haushaltskasse etwas aufzustocken und ging so oft wie möglich putzen, aber auch das brachte nur wenige Mark ein und half kaum, unsere beständige Geldnot zu verringern.

Doch trotz allem war ich ein gewünschtes, geliebtes und glückliches Kind. Meine Mutter häkelte mir aus bunten Wollresten hübsche Kleider und verwöhnte mich mit ihrer grenzenlosen Liebe. Ihr Schrecken war groß, als ich einmal ausnahmsweise allein auf dem Hof spielte, ein Schwein aus der benachbarten Schlachterei ausbrach und auf mich los stürmte. Ich lief schreiend davon und brach mir beim Hinfallen den Arm. Obwohl ich erst zwei Jahre alt war, kann ich mich noch gut daran erinnern.

Auch den Besuch meiner Großeltern zu dieser Zeit habe ich nicht vergessen. Die Eltern meines Vaters, »Russland-Oma« und »Russland-Opa«, lebten zu dieser Zeit in Moskau und brachten mir wunderschöne rot-golden bemalte Teller aus Holz und Matrjoschkas mit – das waren kleine, ineinandergesteckte Holzpuppen, die lustige Gesichter hatten und jahrelang zu meinem liebsten Spielzeug gehörten. Mein Großvater war 1930 aus der bedrückenden Arbeitslosigkeit einem Angebot aus der noch jungen Sowjetunion gefolgt, die dringend Facharbeiter suchte, und arbeitete dort als Maschinen-Spezialist. Er hatte seine Frau und das jüngste von ihren fünf Kindern, die 17-jährige Tochter Lotte, mitgenommen, ein hübsches, intelligentes, aufgeschlossenes Mädchen, das schnell mit ihm zusammen die russische Sprache erlernte, Arbeit bekam und sich in Moskau bald sehr wohl fühlte. Meiner Großmutter dagegen fiel das Umgewöhnen schwer; sie sperrte sich gegen die fremde Sprache und das ungewohnte Leben, blieb zu Hause, bekam keinen Kontakt zu Nachbarn oder Kollegen und sehnte sich voller Heimweh immer nur nach Deutschland zurück …

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