In den letzten beiden Kriegsjahren wurde dieser Unterricht auch noch fast täglich von Tagesalarmen unterbrochen und wir mussten bereits bei »Voralarm« – das waren drei langgezogene Sirenentöne – die meist etwas entfernter liegenden Luftschutzkeller aufsuchen. In den Wochen vor Kriegsende gab es dann schließlich gar keinen Unterricht mehr, denn wir konnten unsere Keller überhaupt nicht mehr verlassen. Schule war unwichtig geworden, jetzt ging es für uns nur noch ums Überleben. Wir Kinder aus diesen Kriegsjahren werden wohl immer mit einem gewissen Defizit an Schulwissen leben müssen – aber reicher als spätere Generationen sind wir sicher an schmerzhafter Lebenserfahrung.
Ich war mit meiner Klasse ab 1942 in Potsdam in der Schule in der Charlottenstraße untergebracht. Für mich war das ein langer Schulweg, den ich mit der Straßenbahn der Linie 4 von Babelsberg in das noch weitgehend unzerstörte Potsdamer Zentrum zurücklegen musste. Ich fuhr über die Lange Brücke durch die schöne Altstadt, vorbei am Schloss und am Palast Barberini, am Kanal entlang und an der beeindruckenden Nikolaikirche bis zum Wilhelmplatz. Bei Voralarm konnten die nahe wohnenden Schüler schnell nach Hause laufen und dort in den Keller gehen, ich aber musste mit anderen in den großen Bunker am Wilhelmplatz. Dort saßen wir verängstigt dicht an dicht in dem völlig überfüllten Luftschutzraum. Noch heute habe ich das durchdringende, fast drohende Heulen der Alarmsirenen nicht vergessen, das dunkle Röhren der anfliegenden Bomber und dazu das ununterbrochene Hämmern der Flak. Uns wurde immer gesagt, wenn du die Bombe heranheulen hörst, dann trifft sie dich nicht. Wie oft haben wir dieses pfeifende Geräusch gehört, den Kopf eingezogen, die Ohren zugehalten und uns auf den Boden geduckt. Dann krachten die Einschläge, der Boden bebte und schwankte wie auf hoher See, die Wände wackelten und wir kannten nur noch ein Gefühl – entsetzliche, hilflose Angst! Jeden Tag Alarme, jeden Tag Bomben und jeden Tag wieder diese Angst – und trotzdem lachten und spielten wir in der Zeit dazwischen, lärmten und zankten uns, streiften durch Ruinen, suchten Bombensplitter als Talisman und waren immer unausgeschlafen.
Ich erinnere mich noch genau an den 14. April 1945, wenige Tage vor Kriegsende, als ein Luftangriff die alte Garnisonstadt Potsdam zerstörte. Es war ein sonniger und schon warmer Frühlingstag und wir sehnten uns danach, endlich wieder draußen spielen zu dürfen, über die Wiesen zu laufen und ohne Angst vor Fliegeralarm und Bomben in der Nacht schlafen zu können. Aber kurz nach 22 Uhr heulten wieder mal die Sirenen und um 22.39 Uhr begann der große Angriff auf die wunderschöne Stadt Potsdam mit all ihren unersetzlichen Kulturdenkmälern. Innerhalb von nur 20 Minuten luden 724 Flugzeuge der Royal Air Force 1752 Tonnen Spreng- und Brandbomben über der Stadt ab.
Unser Haus wogte in Wellen auf und ab, wir lagen auf der Erde, die Decke über den Kopf gezogen, Frau Sommer schrie: »meine Betten, meine Betten!!«, die Schornsteinklappe flog auf, Ruß und Staub drangen heraus, Putz fiel von Decken und Wänden, wir erstickten fast, drückten feuchte Tücher auf unser Gesicht, meine Mutter hielt meine Schwester und mich eng umschlungen, wir alle erwarteten jeden Augenblick das schreckliche Ende. Unerträglich lange erschien uns die Zeit bis die tödlichen Geräusche verebbten und Stille eintrat, Entwarnung … Zitternd schlichen wir vorsichtig aus dem Keller, traten auf der Treppe über zerborstene Fensterscheiben, Kalk und Putz, und waren doch glücklich, dass unser Haus den Angriff überstanden hatte und wir unsere Wohnung im zweiten Stock erreichten. Aus unserem Fenster, das keine Scheiben mehr hatte, sahen wir entsetzt auf die brennende Stadt Potsdam. Qualm und Hitze drangen uns ins Gesicht, wir hörten das knisternde Rauschen der Flammen und dazwischen ständige Explosionen. Alles roch nach Brand und Rauch, grauer Trümmernebel biss uns in Augen, Nase und Mund und machte das Atmen schwer. Aber wir lebten. Mehrere meiner Mitschülerinnen sind bei diesem schrecklichen Angriff ums Leben gekommen, von Trümmern erschlagen und erstickt oder verbrannt von Phosphorbomben.
Am nächsten Tag war Potsdam nicht mehr wiederzuerkennen. Die ganze Innen- und Vorstadt war zerstört, die Straßen, durch die ich jeden Tag mit der Straßenbahn zur Schule gefahren war, gab es nicht mehr, das Schloss, den Palast Barberini, das beliebte Café, das schöne alte Theater, in dem ich jedes Jahr das Weihnachtsmärchen gesehen hatte, die Kirchen, alle Häuser am Kanal und am Wilhelmplatz – nur noch rauchende Trümmer. An ausgebrannten Fassaden, die wie schwarze Skelette in den Himmel ragten, standen oft mit Kreide erste Nachrichten: Wir leben Inge, Heinz und Gabi. Oder: Oma Ursel, wo bist Du? Melde Dich, wenn Du lebst – Zeichen für die verzweifelt suchenden Angehörigen.
Wir liefen vorbei an der zerstörten ehemaligen Tuchfabrik Pitsch in der Wichertsraße in Babelsberg mit den Baracken für die französischen Zwangsarbeiter. Ihnen, wie allen ausländischen Zwangsarbeitern, war es streng verboten, die schützenden Luftschutzkeller aufzusuchen. Jetzt waren die Gebäude zerstört, alles war durch Phosphorbomben verbrannt und überall lagen verkohlte Menschen herum. Sie waren nur noch so groß wie Puppen …
Mitten im Krieg – etwa 1942 – kam ein Mädchen in unsere Klasse; sie war genauso alt wie wir, wirkte aber viel älter, war voll entwickelt, größer und kräftiger als wir und – hatte eine dunkle Hautfarbe. Sie hatte lange schwarze, glatte Haare und wir nannten sie liebevoll Negerbaby. Sie hieß Helga Schulze und kam mit ihren Eltern aus Brasilien. Ihr Vater hatte dort in der deutschen Botschaft gearbeitet. Sie sprach ein völlig akzentfreies Deutsch und wurde in unserer Klasse trotz ihres exotischen Aussehen sofort voll angenommen – was zu dieser Zeit weitaus ungewöhnlicher war als heute. Sie war sehr beliebt und auch unsere Lehrer begegneten ihr mir großer Freundlichkeit. Etwa zwei Jahre blieb sie bei uns, dann war sie plötzlich weg. Niemand sagte uns, wo sie geblieben war, es hieß, sie sei weggezogen … Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.
Die ständigen Fliegeralarme hatten mich doch mehr belastet, als meine Eltern zunächst annahmen, besonders nachdem eine schwere Luftmine in unserer unmittelbaren Nähe im Barberow-Weg einschlug und auch drei meiner Spielgefährten unter den Trümmern ihrer Häuser erschlagen wurden. Ich schrie regelmäßig nachts auf und erwachte schweißgebadet und zitternd. Als ich kurz darauf an hohem Fieber erkrankte und meine Mutter für nur wenige Minuten die Wohnung verließ, um einzukaufen, fand sie nach ihrer Rückkehr ein Chaos in unserem Wohnzimmer vor. Ich hatte in Angst- und Fieberträumen alle Stühle auf unserem Wohnzimmertisch zerschlagen und schlief erschöpft auf der Erde. Ich konnte mich später erinnern, dass ich schreiend und in Panik auf ein schwarzes Loch, in das ich hineinzustürzen drohte, verzweifelt eingeschlagen habe. Meine Mutter zog unseren Hausarzt zu Rate, der ihr dringend empfahl mich in ein Gebiet zu bringen, das nicht durch Bombenangriffe belastet war. Und so wurde ich meiner Schulklasse hinterhergeschickt, die gerade zwei Wochen zuvor nach Neu-Schleffin an der pommerschen Ostseeküste evakuiert worden war und zu der meine Eltern für mich noch ihr Einverständnis verweigert hatten. Wegen der Bombengefahr fuhren die Züge mit den Kindertransporten fast immer nachts los. Es war für mich eine schreckliche Fahrt, so mitten in der Nacht mit Schülern einer fremden Schule und einem Schild um den Hals von Umsteigestation zu Umsteigestation geschleust zu werden, bis mich eine Helferin dann noch bei Dunkelheit in der kleinen Ferienvilla Haus Erika ablieferte, in der sich meine Klasse schon seit zwei Wochen befand. Man brachte mich in ein Zimmer mit drei anderen Mädchen, die am Morgen voller Staunen eine fest schlafende Mitbewohnerin vorfanden. Ich hatte keine Schwierigkeit, mich in der neuen, friedlichen Umgebung einzugewöhnen, und fand mein seelisches Gleichgewicht in kurzer Zeit wieder. Meine Albträume verschwanden, und endlich konnte ich ein normales Leben ohne nächtliche Fliegeralarme führen. Wir hatten vormittags im sonnigen Wintergarten Schulunterricht, nach dem Mittagessen wurden die Hausaufgaben erledigt und dann ging es an den Strand oder wir machten Spiele mit Traudl und Ruth, Studentinnen, die uns betreuten und die wir sehr liebten. Unsere Lehrer kochten für uns und jeder von uns hatte seine Aufgaben, die alle drei Tage wechselten, vom Küchendienst und Servierdienst bis zur Reinigung der Zimmer. Wir lebten wie eine große Familie und endlich wieder wie normale Kinder ohne ständige Bombenangst. Nach dem halben Jahr an der Ostsee sollte es im Winterhalbjahr eigentlich weiter in ein anderes Lager in den Karpaten gehen. Aber glücklicherweise kam diese Reise nicht mehr zu Stande, denn die Front im Osten rückte nun langsam näher und wir wären vielleicht in den letzten Kriegswirren nicht mehr nach Hause zurückgekommen. So wurden wir im Herbst wieder nach Berlin gebracht, mitten hinein in die Bombennächte.
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