Rainer Garbe
Es hat noch draußen
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Inhaltsverzeichnis
Titel Rainer Garbe Es hat noch draußen Dieses ebook wurde erstellt bei
Prolog Prolog Als Berger einmal in der Waschküche Tennisbälle für das sonntägliche Familiendoppel holen wollte, fand er dort eine Plastiktüte mit Bällen, die so abgespielt waren, dass sie kaum noch Filz hatten, und dazu einen Zettel in der geschwungenen Handschrift seiner Mutter: Springen schlecht . Daraufhin schenkte er den Eltern zu Weihnachten eine neue Packung Bälle, auf der ein Zettel in seiner Schrift klebte: Springen gut. Über diesen Spaß konnte auch die Mutter, die sonst keinerlei Selbstironie besaß, herzlich lachen.
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Impressum neobooks
Als Berger einmal in der Waschküche Tennisbälle für das sonntägliche Familiendoppel holen wollte, fand er dort eine Plastiktüte mit Bällen, die so abgespielt waren, dass sie kaum noch Filz hatten, und dazu einen Zettel in der geschwungenen Handschrift seiner Mutter: Springen schlecht . Daraufhin schenkte er den Eltern zu Weihnachten eine neue Packung Bälle, auf der ein Zettel in seiner Schrift klebte: Springen gut. Über diesen Spaß konnte auch die Mutter, die sonst keinerlei Selbstironie besaß, herzlich lachen.
Da liegt sie nun, den Mund leicht geöffnet, die Haare hellgrau, ein paar rötliche Flecken im blassen Gesicht. Bergers Bruder geht ans Kopfende des Sarges, streicht der Toten zwei-, dreimal durch die Haare. Jetzt tritt auch Schwester Frida an den Sarg.
Für Berger scheint die Mutter einen Moment lang lebendig – als ob sie nur schliefe. Er stellt sich vor, sie würde gleich die Augen aufmachen und sagen: Kinder, schön, dass wir wieder mal beisammen sind. Gleichzeitig erscheint sie ihm eigenartig fremd und entrückt, wie eine Wachsfigur. Das ist wohl das, was man Seele nennt – das Unsichtbare, das dem Körper entwichen ist und nur die Hülle hinterlässt.
Das Gebiss haben sie ihr wieder eingesetzt, hört er Helmut sagen. Im Krankenhaus habe sie schlimmer ausgesehen. Der halb herunterhängende Unterkiefer macht auf Berger den Eindruck, als hätte sie nach einer Aufregung erleichtert ausgeatmet. Sein Blick gleitet langsam zum Fußende. Von den Achseln an ist ihr Körper in ein Seidentuch gehüllt, die Hände darüber gefaltet. Endlich kann sie entspannen.
Berger ekelt sich ein bisschen, seine Mutter zu berühren. Im Haus, in dem er und seine Geschwister aufgewachsen sind und die Mutter bis zum Schluss gelebt hat, gibt es bis heute weder Heizung noch Dusche. Ob sie sich überhaupt noch gewaschen hat in der letzten Zeit? Einmal legt er doch kurz seinen Handrücken auf ihre Finger und spürt das, was man Leichenkälte nennt. Dabei wird ihm bewusst: Seine Mutter ist die erste Leiche, abgesehen von der seines verstorbenen Wellensittichs, die er bisher gesehen hat.
Frida reicht es. Nach fünf Minuten verlässt sie die Kapelle, erstmal eine rauchen.
Berger spürt keine Trauer. Wie sollte er auch. Immerhin wurde er als kleiner Junge mit Hausarrest, Ohrfeigen und Stockschlägen bestraft und obendrein gezwungen, im Sommer eine abgeschnittene Wollstrumpfhose zu tragen – und dazu weiße Slipper, wie sie aus für ihn unerfindlichen Gründen heute bei Teenagern modern sind.
Wut und Verachtung müsste er spüren. Und den Wunsch, ihr damals selbst eine gescheuert zu haben, sodass ihr die Brille vom Kopf geflogen wäre. Vielleicht hätte sie dann aufgehört mit den Bestrafungen. Aber Berger spürt keine Wut. Im Moment jedenfalls nicht. Jede Menge Wut hat er vor Jahren schon rausgelassen, auf der Matratze seines Therapeuten, die er mit Faustschlägen und Fußtritten traktierte – und einen Teil seines Grolls, indem er die Mutter zunehmend offen kritisierte. Viele Jahre waren Trotz, Depression und Angst seine ständigen Begleiter gewesen. Erst nach zwei, drei Jahren Therapie, als sein Zustand sich allmählich besserte, entspannte sich auch seine Haltung gegenüber der Mutter. In den letzten Jahren schien sich das Verhältnis sogar beinahe umgedreht zu haben: Während er inzwischen erwachsen geworden war, kam sie ihm manchmal vor wie ein kleines, hilfebedürftiges Mädchen. Aus diesem Grund kann er sie jetzt auch einfach als alte Frau sehen, die immerhin 86 Jahre geworden ist. Eine Frau mit einer großen Macke allerdings.
Berger tastet auf dem Tuch nach dem linken Unterschenkel, dem offenen Bein, das seit über zwei Jahren nicht zuwachsen wollte. Sie hätten es nochmal frisch verbunden, sagt Helmut.
Ein paar Minuten bleiben sie noch, schweigend, Berger mit den Händen an der Sargkante, der fast vier Jahre ältere Bruder an der Längsseite hockend. Beim Verlassen der Kapelle heben beide noch einmal wie zum Abschied die Hand.
Draußen die ersten Trauergäste. Zwei Frauen, Tennispartnerinnen der Mutter bis vor ihrem Herzinfarkt vor vier Jahren; Frau Wilke, die Mutter des besten Kartonfußball-Spielers früher auf der Straße; Herr Born und Herr Forstmann, Nachbarn der Mutter, mit deren Kindern Berger und seine Geschwister damals gespielt haben.
Vor einiger Zeit noch wäre es ihm unangenehm gewesen, Hände zu schütteln, Beileidssätze zu empfangen und dabei betroffen zu schauen. Lieber hätte er die Beerdigung im engsten Kreis abgehalten, ohne Kirche und Friedhof, das Grab im Garten des Hauses. Doch jetzt, während er und Helmut die Gäste begrüßen, empfindet Berger die Anwesenheit der Bekannten als angenehm, als Erleichterung in diesen Stunden. Geteiltes Leid ist halbes Leid – an diesem Satz ist schon was dran. Obwohl bei ihm von Leid nicht mehr die Rede sein kann. Das ist überhaupt der einzige Vorteil von Menschen, zu denen man kein gutes Verhältnis hat: dass man bei deren Tod nicht leidet.
Bei Born und Forstmann steht Berger eine Weile. Während alle vor der Kapelle warten, behält er Frida im Auge, die sich eine weitere Zigarette angesteckt hat. Hoffentlich übersteht sie diesen Tag einigermaßen.
Born und Forstmann reden über die Fröhlichkeit und den Erfindungsreichtum der Mutter. Dabei weicht für einen Moment der Ernst auf ihren Gesichtern einem anerkennenden Lächeln. „Sie hat an allem nur das Positive gesehen“, sagt Born. Und Forstmann ergänzt: „Und diese handwerkliche Begabung! Was hat sie nicht alles genäht und gebastelt, auch aus Sachen, die man eigentlich wegwirft.“ Über ihren Zustand zum Schluss sei er aber erschrocken.
Vor einer Woche hat Berger von Helmut erfahren, dass Forstmann die Mutter gefunden hat: im Wollmantel auf einem Drehstuhl im Wohnzimmer sitzend, kraftlos und verwirrt, nachdem der Pfleger, der wie jeden zweiten Tag ihr Bein versorgen wollte, mehrmals vergeblich geklingelt hatte. Forstmann hat daraufhin sofort den Notarzt und Bergers Bruder verständigt und schlecht geschlafen in jener Nacht. Den Geruch aus dem Haus habe er noch drei Tage später in der Nase gehabt.
Helmut ist noch am gleichen Tag zu ihr ins Krankenhaus gefahren. Da sei sie aber offenbar schon so weggetreten gewesen, dass sie ihn nicht mehr erkannt und auf dem Schrank an Stelle des Fernsehers eine große Spinne gesehen hat. Die Ärzte wollten für ihre weitere Entscheidung das Wochenende abwarten. Doch schon am nächsten Vormittag meldete Helmut sich wieder bei Berger: Sie wäre über Nacht eingeschlafen, friedlich offenbar und ohne Schmerzen.
Die Brüder waren sich sofort einig: Das sei das Beste für alle Beteiligten. „Stell dir vor“, meinte Berger, „man hätte sie wieder aufgepäppelt, aber mit der Diagnose Hirnschaden, wirr und dement. Das Bein hätte man ihr wahrscheinlich abnehmen müssen, und schließlich wäre sie im Rollstuhl ins Altersheim gekommen, wo sie nie hinwollte“. Was Berger nicht erwähnte, aber alle dachten: Sie wäre noch jahrelang ein Pflegefall und eine mürrisch erledigte Pflichtaufgabe für die drei Geschwister gewesen. Nein, so war es wirklich besser. Vielleicht hat sie es auch gespürt? Jedenfalls hatte sie oft betont, sie wolle niemandem zur Last fallen .
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