Der flache Karton mit dem Geschenkpapier stand schon im Schrank, als er ein kleiner Junge war. Während andere, etwa Helmuts Kinder, Weihnachten bei der Bescherung voller Spannung das Papier aufrissen, fingerte die Mutter minutenlang an den Klebestreifen herum, um das Papier zu schonen: Das kann man noch brauchen fürs nächste Jahr! Berger nimmt kleine Stapel heraus und lässt sie nach und nach in einen Müllsack fallen. Wie die Jahresringe eines Baums liegt das Papier im Karton: ganz oben im aktuellen Stil – das könnte vom letzten Mal sein – bis in die 50er-Jahre zurück. Das letzte Stück legt er in das obere Fach des Schranks, das er auf einem Zettel mit „Aufheben“ beschriftet hat. Da sind schon einige Bücher, Wecker, Feuerzeuge und eine Tüte voller Regenschirme deponiert. Unter seinem Bett zieht er eine schmale Schublade voller Klopapierrollen hervor. Was diesen Vorrat anging, hätte sie noch einige Jahre leben können. Als er die Schublade zurückschiebt, erkennt er daneben den Nachttopf aus seinen Kindertagen. Dieser weiße Emailletopf mit Henkel – er als Zwei- oder Dreijähriger mit üppigen weißen Locken in der Küche auf diesem Topf sitzend, mit keck-fragendem Blick zum Vater schauend, der im Türrahmen steht und auf den Auslöser einer Fotokamera drückt (die Mutter sitzt auf ihrem Stammplatz am Küchentisch). Das Foto gibt es noch, seit Jahren liegt es in seiner Bilderkiste.
Das muss jetzt ... Berger streicht über den Rand des Topfs, wo an einer Stelle ein Stück Emaille abgeplatzt ist ... bald 45 Jahre her sein. Wahrscheinlich ist das überhaupt die erste Situation in meinem Leben, an die ich mich erinnern kann.
Sein Blick fällt auf das Nachtschränkchen an der Kopfseite des Bettes. Darin liegt doch bestimmt noch etwas aus seinen Jugendjahren. Zwei Säcke mit Stoffen und mehrere aufgerollte Teppichläufer muss er beiseite räumen, um sich den Weg zu bahnen. Dann kann er die Tür bis zur Hälfte öffnen. Aus dem oberen Fach zieht er ein Matheheft; das kommt erstmal auf die Seite. Dann fühlt er etwas kleines Weiches, und eine kindliche Freude überkommt ihn: Det, das Mainzelmännchen mit der Brille – der erste wirklich lohnende Fund. Das ist eine Belohnung von der Mutter gewesen, für eine Eins im Diktat. Diktate fielen ihm immer leicht in der Volksschule; die Groß- und Kleinschreibung sowieso, und ein Komma setzte er immer dann, wenn die Lehrerin eine kurze Pause beim Vorlesen machte. Mit dieser Kommaregel lag er fast immer richtig.
Den Det hatte er sich ausdrücklich gewünscht, den Chef der Mainzelmännchen mit der schwarzen Hose und auf dem Rücken verschränkten Armen, der damals in der Werbepause einem anderen Mainzelmann durch Fingerzeig die Reihenfolge anwies, in welcher der die Blumen zu gießen hatte. Oft hatte er das Brillenmännchen im Schaufenster des Tabak- und Zeitungsladens gesehen, dann endlich gehörte es ihm. Berger schaut Det an, als wäre es sein Spiegelbild, da er selbst seit der vierten Klasse eine Brille trägt. Er lächelt und steckt ihn ein. Dann holt er noch etwas aus dem Schränkchen. Etwas, in das er lange Zeit verliebt war: eine schwarzhaarige Schöne mit schneeweißen Zähnen, von einem Mann hochgehoben und dem Betrachter ein verlockendes Lachen schenkend. Es ist das Bild einer Anzeige für irgendein Medikament (ein Potenzmittel?), das es wahrscheinlich gar nicht mehr gibt. Berger hält die herausgerissene Illustrierten-Seite in der Hand. Das war über Jahrzehnte seine Traumfrau; nach so einer hat er sich immer umgeschaut. Auch wenn er offener geworden ist, ein Faible für Dunkelhaarige hat er noch immer. Die strahlende Schwarze aber hebt er nicht auf; ihm reicht die Erinnerung. Er lässt die Seite in die Mülltüte fallen. Man muss auch loslassen können.
Das letzte, was er an diesem Tag buchstäblich ans Licht bringt, ist ein Fotoalbum mit Porträts der deutschen Nationalspieler bei der 74er Fußball-WM. Berger hatte die karikaturartigen Illustrationen aus der Fernsehzeitschrift ausgeschnitten. Sepp Maier und Gerd Müller erkennt er, Beckenbauer und Netzer natürlich, Paul Breitner, Berti Vogts, „Katsche“ Schwarzenbeck, Grabowski, Bonhof; bei Höttges und Cullmann muss er einen Moment überlegen. Zwischen den angegilbten Kartonseiten liegt ein „Bestellschein für das große Sammelalbum von Ernst Huberty, Album nur noch lieferbar bis 30.6.1975“. Ernst Huberty – sofort hat Berger auch die Namen der anderen Sportschau-Moderatoren parat: Fritz Klein mit der dunklen Hornbrille, Dieter Adler und Adi Furler, der auch Pferderennen kommentierte. Die Sportschau ließ er selten aus, einige Male schaute er auch mit Klaus und den anderen Jungs; der hatte sogar eine Magnettabelle, auf der er die Vereinswappen nach jedem Spieltag neu ausrichtete. Wenn Berger ihn samstagnachmittags besuchte, waren schon von weitem die Bundesliga-Liveberichte zu hören. Stadionsprecherartig schallten verschiedene Männerstimmen aus einem Kofferradio, das dort mitten im Garten stand, wenn Klaus’ schwerhöriger Vater in den Beeten arbeitete. Berger interessierte sich ja mehr für Tennis. Er muss innerlich lächeln: Für „Tennis Borussia“, eine ihm damals völlig unbekannte Regionalliga-Fußballmannschaft aus Berlin, empfand er Sympathie, bloß weil in diesem Namen sein Lieblingssport vorkam.
Als er am dritten Tag vor dem Haus aus dem Auto steigt, ruft von der anderen Straßenseite ein Mann nach ihm, den er sofort als Herr Specht erkennt. Der Vater zweier früherer Spielkameraden spricht ihn erst mit „Helmut“ an, weil die Brüder sich ähnlich sehen und Berger Helmuts Auto fährt. Dann erkennt Specht seinen Irrtum und erzählt, dass er einen Interessenten für das Haus habe, ein Türke mit Familie – netter Mann, der könne auch einiges selber machen und beim Ausräumen helfen. Berger registriert: die Stimme, die dicke, großporige Nase – wie damals; ein Krückstock ist noch die markanteste Veränderung. Und als Spechts Frau dazukommt, sieht Berger die Bilder wieder vor sich: die ganze Truppe sonntagnachmittags bei Spechts im Wohnzimmer auf dem Teppich vor dem Fernseher hockend und auf „Bonanza“ wartend. Spechts hatten den ersten Farbfernseher weit und breit. „In Farbe“ lautete der Hinweis in der „HörZu“. War das ein Ding, wie diese Landkarte von innen her verbrannte und die vier Cowboys angeritten kamen. Die Melodie kann heute noch jeder 40- und 50-Jährige pfeifen. Daran erinnern die Spechts sich natürlich auch noch. Berger könne Ole ja mal besuchen, bietet Specht ihm an, der wohne jetzt im oberen Teil des Hauses. Im selben Haus wie die Eltern, das wäre für Berger undenkbar. Er hat auch nie nachvollziehen können, warum viele seiner Schulkameraden in Schwelm geblieben sind. Er wäre wahrscheinlich erstickt an seiner Vergangenheit, zu eng wäre es ihm geworden im kleinen Wuppertal (geschweige denn im Dorf Langerfeld). Schon in der Schulzeit suchte er sich Freiheiten und unternahm kleine Fluchten. Manches Mal schwänzte er samstags die letzte Stunde, kaufte auf dem Heimweg beim Spielzeugeisenbahn-Händler ein „Faller“ oder „Kibri“ Haus und baute es nachmittags zuhause am Küchentisch zusammen. Noch heute, wenn er „vom Süden“ über die Autobahn nach Hamburg „rein“ fährt, weitet sich sein Brustkorb, wird sein Atem tiefer, spürt er Ebbe und Flut, die Gezeiten in sich: den Wechsel von Treibenlassen und Tatendrang. Für ihn nicht „das Tor zur Welt“, eher ein weiter, bunter Platz, der ihm Weitblick ermöglicht hat.
Zwei Minuten später schließt er die Haustür auf, und wieder empfängt ihn die Stille. Nur der Kühlschrank in der Küche ist zu hören: ein kurzes Ruckeln beim Anspringen der Kühlung, dann ein leichtes Summen.
Jetzt, am dritten Tag, beginnt die Arbeit für ihn Routine zu werden. Handschuhe an, Müllsack von der Rolle reißen und los. Das Bad soll heute auf jeden Fall leer werden. Erst das halbhohe Regal neben dem Klo. Er zieht den kleinen Vorhang auf: alles alte Schuhe, die die Eltern seit zig Jahren nicht mehr getragen hatten. In der untersten Reihe Pumps aus den 60er- oder 70er-Jahren, halbhoch mit spitzen Absätzen. Mit denen hat er seine Mutter nie gesehen; mit halbhohen breiteren Absätzen schon, aber diese pfennigkleinen, die hätten nicht zu der Frau gepasst, wie er sie in Erinnerung hat. Korpulent war sie schon in seinen Jugendjahren. Später legte sie sogar noch zu, sodass sie ihre Kleider weiter machen musste. Die meisten Sachen nähte sie ohnehin selbst, die letzten zwanzig Jahre fast nur noch Hosen und Jacken. Gekauft wurde nie etwas, nur Stoffe und davon sind noch immer jede Menge übrig, bestimmt fünf, sechs große Säcke.
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