Berger zählt die vollen Säcke: 15. Endlich kommt er in seinem Zimmer an die Schränke heran. Die will er morgen ausräumen. Er zieht die Gummihandschuhe aus und wirft sie in einen der offenen Säcke. Dann macht er noch einen Rundgang durchs vollgestellte Elternschlafzimmer über die Treppe in den zweiten Stock, wo Helmut und Frida ihre Zimmer hatten. Der Bruder bekam seinen eigenen Raum, als er mit zehn oder elf Jahren aufs Gymnasium kam. Wann Frida nach oben zog, weiß Berger nicht mehr genau; vermutlich zu Beginn ihrer Pubertät.
Spinnweben sind keine zu sehen, stellt er fest. Offenbar haben auch die Insekten längst das Weite gesucht. Aber Mäuseköttel überall, wie ausgesäte Schokostreusel. In Fridas Zimmer schaut er einige Sekunden lang auf ein vergilbtes Porträt des jungen Uli Hoeness im Trikot von Bayern München (wohl aus einem „Kicker“ von Helmut). Für diesen Spieler hat sie in den 70er-Jahren mal geschwärmt. Überraschend eigentlich, denn in der Familie interessierte sich niemand besonders für Fußball, außer für die Spiele der Nationalmannschaft. Nur Berger kuckte hin und wieder mit seinen Freunden die „Sportschau“. Jetzt fällt ihm ein: Helmut war mal an zwei Karten für das Spiel Wuppertaler SV gegen Bayern München gekommen und mit Frida ins Stadion gefahren. Der WSV war in die Bundesliga aufgestiegen und die Bayern zu Gast. Hinterher schwärmten die Geschwister davon, Beckenbauer, Müller, Maier und Hoeness endlich mal live gesehen zu haben. Eine Ecke des Posters hat sich inzwischen von der Reißzwecke gelöst und aufgerollt, die Tapete ist an dieser Stelle etwas heller.
Das Puder der Handschuhe hat weiße Stellen auf Bergers mittlerweile trockenen Händen hinterlassen. Wieder unten in der Küche, dreht er den Hahn auf. Es kommt kein Tropfen. Ach ja, Helmut hat das Wasser abgestellt. Über dem Spülstein schüttet er Mineralwasser aus einer Flasche über seine Hände, reibt sie gegeneinander, spült nach und wischt sie an seiner Hose einigermaßen trocken. Zurück in der Wohnung des Bruders, zieht er gleich Schuhe, Hose und T-Shirt aus und duscht sich den Muff vom Leib. Nach altem Haus riechen die Sachen, sie werden ab jetzt zu seiner Arbeitskleidung für diese Tage.
Schon um Zehn geht er ins Bett, doch sein Kopf ist noch im Elternhaus. Die Froni fällt ihm ein, die kindsgroße Puppe der Schwester. Die Mutter hatte aus Wollresten einen Kopf, Rumpf und Gliedmaßen geformt, mit beigefarbener Haut (einem alten Baumwollstoff) überzogen und mit Filzstift ein unschuldiges Gesicht gemalt, in das die aus braunen Wollfäden gedrehten Haare fielen. Froni trug eine alte Strickjacke von Frida und ihre ersten (weißen) Schuhe, sie trägt sie noch immer. Seit die Schwester in einem Wohnheim lebt, sitzt die Puppe als stumme Gefährtin auf ihrem Sessel. Ob sie wie eine Schwester für Frida war, zumindest eine Zeit lang, und von der Mutter so gedacht? (Berger wird seine Schwester danach fragen.) Er hat jetzt nicht mehr die Puppe im Sessel vor Augen, sondern die Mutter im Drehstuhl.
Du bist so gestorben, wie ich es mir vor Jahren einmal vorgestellt habe: in einer Ecke kauernd, ausgezehrt – ein wortloser Abgang, ohne uns noch einmal angerufen und um Hilfe gebeten zu haben. Im Grunde ein natürlicher Tod. Wie ein Tier, das um sein Ende weiß, hast auch du nichts mehr zu dir genommen, dich eingerollt in eine Ecke und auf das Ende gewartet.
Bergers Ziel für den zweiten Tag: das Badezimmer entrümpeln. An diesem Raum, wenn auch dem kleinsten, will er zeigen, dass er was geschafft hat in dieser Zeit, bevor Helmut den Container bestellen und die erste Fuhre entsorgen lassen wird.
Beim Blick auf den Kinderstuhl im Flur fällt ihm ein, dass er genau hier zum ersten Mal in seinem Leben etwas Totes gesehen hat. Eines Mittags, als er aus der Schule kam, lag einer der beiden Wellensittiche, die er zum achten oder neunten Geburtstag bekommen hatte, auf dem Stühlchen. Der Anblick des auf ein Stück Zeitungspapier gebetteten kleinen leblosen Körpers im hellblauen Federkleid traf ihn ins Herz. Die Mutter meinte, der Vogel habe wohl Zug bekommen von den Malern, beim Lüften des Wohnzimmers. Es war eine absolute Ausnahme, dass sie einmal Handwerker im Haus hatten, wo doch die Mutter sonst all diese Arbeiten selber erledigte. Nach ein, zwei Tagen starb, ob an Zug oder Einsamkeit, auch der andere Sittich. Berger erinnert sich, darüber tagelang traurig gewesen zu sein.
Das Stühlchen steht hier schon eine Ewigkeit. Mindestens ebenso lange bedeckt im Bad ein Brett die Wanne. Früher lagerte die Mutter darauf Illustrierte, Kreuzworträtsel und Klopapier. In den letzten Jahren haben sich hier jedoch alle möglichen Sachen angesammelt: Kartons voller Zeitungen, Medikamenten-Packungen, Mullbinden, leerer Konservendosen und Bleistifte (die sie immer mit einem Messer anspitzte, weil dann weniger von der Mine verloren ging); außerdem eine Lupe, ein halbes Dutzend Nagelscheren und ein Joghurtbecher gefüllt mit Sicherheitsnadeln, alles von grobem Staub bedeckt. Berger würde die überquellenden Kartons am liebsten direkt in einen Müllsack werfen. Aber der Gedanke an möglicherweise wichtige Briefe, alte Fotos oder Bargeld lässt ihn vorsichtiger arbeiten.
Hinter der angelehnten Tür das gleiche Bild wie vor Jahrzehnten: der nie benutzte Besen in der Ecke und am Haken der Kinder-Garderobe Vaters weinroter Bademantel. Den trug er eigentlich nur im Urlaub, wenn er als Einziger auf der Schattenseite des Schwimmbads am Beckenrand stand oder im Liegestuhl die Zeitung las. Sonst hing der Mantel immer hier am Haken. Nur in den letzten Jahren, als der Vater bereits pensioniert war, hatte er ihn wieder öfter an. Das ist auch das letzte Bild, das Berger von seinem Vater im Gedächtnis hat: er in diesem weinroten Bademantel in der Küche sitzend. Da hatte der noch nicht diagnostizierte Bauchspeicheldrüsen-Krebs schon irreparable Schäden in seinem Körper angerichtet.
Ist Weinrot nicht eine Farbe der Melancholie? Berger macht ein Foto: der Bademantel am Haken vor der Sternenmuster-Tapete. Die letzte Gelegenheit, Bilder aus seiner Jugend und Kindheit mit der Kamera festzuhalten. Das hat er schon einmal getan, als die Eltern allein Urlaub in Südtirol machten. Von unten bis oben fotografierte er das Haus, natürlich auch die Unordnung, die skurrilen Dinge: die Zeitungsstapel in der Küche, die Schubladen voller gefalteter Plastiktüten, die Eimer mit gebrauchtem Wasser neben der Toilette, faule Äpfel auf der Fensterbank, jahrzehntealte Zahnbürsten mit vergilbten, ausgefransten Borsten. Es waren Fotos, die kein gutes Licht auf ihr Leben warfen. Er machte ein Album daraus und schenkte es dem Bruder zu Weihnachten. Ihm kamen Tränen beim Anblick des nostalgischen Haus-Spaziergangs. Über ihre Schwiegertochter, Helmuts Frau, fiel wenig später schließlich auch der Mutter das Album in die Hände. Dieser Moment der Bloßstellung muss schlimm für sie gewesen sein, die alles tat, um nach außen eine glückliche Familie zu präsentieren; die ihre Kinder kurze Lederhosen und Hemden, Söckchen und Schuhe in Weiß für den Sonntagsspaziergang anziehen ließ; die alle paar Monate den Vater und die Kinder vor der Kamera in Positur brachte, mit Selbstauslöser die heile Welt auf dem Sofa darstellen wollte (und dies auf den Schwarzweiß-Fotos durch Nachziehen der Augenbrauen mit Bleistift zu verstärken versuchte).
Nachdem sie alle Bilder aus dem Album gerissen und vernichtet hatte, musste Berger ihr versprechen, ihr die Negative zu schicken (was er wirklich tat), damit sie auch die aus der Welt schaffen konnte. Später einmal räumte Berger ihr gegenüber ein, das Album sei eine künstlerisch-dokumentarische Verarbeitung seines Konfliktes mit ihr gewesen; sie aber hat ihm diese Aktion nie verziehen. Schade, denkt Berger, dass ich damals keine Abzüge für mich habe machen lassen.
Er nimmt den Mantel vom Haken, hält ihn noch einen Moment in der Hand und steckt ihn dann in den schon wieder fast vollen Müllsack. Dann fällt sein Blick auf die cremegelben Bodenfliesen, die von grauen, wolkigen Strukturen durchsetzt sind. Als Junge hat er oft versucht, in ihnen Gesichter zu erkennen, wenn er auf der Schüssel saß. Noch einmal nimmt er die Perspektive von damals ein, indem er sich dreht und leicht nach vorne beugt. Das eine oder andere Gesicht auf den Fliesen erkennt er tatsächlich noch immer, aber auf die Brille setzt er sich dabei nicht. Die ekelt ihn an, seit die Mutter sie vor ein paar Jahren mit einem passend geschnittenen Schaumstoffoval beklebt hatte. Um die Kloschüssel herum stehen vier, fünf aufgeschnittene Milchkartons als Behälter für dreckige, ausgetrocknete Putzlappen, daneben Plastiktüten mit noch unklarem Inhalt und zwei Eimer mit abgestandenem Wasser. In beiden schwimmt eine leere Konservendose. Diese Überreste einer Sparmaßnahme der Mutter empfand er damals schon als Erniedrigung: Benutztes Wasser vom Familien-Badetag aus dem Trog in der Waschküche oder das von der Wäsche schleppte sie in diesen Eimern ins Bad und ordnete an: Nicht spülen, sondern mit der Dose das gebrauchte Wasser aus dem Eimer schöpfen. Bei Klein , wie sie normales Pinkeln nannten, war das einfach. Bei Groß aber musste man die Brühe mit voller Wucht in die Schüssel kippen, damit der stinkende Brocken genug Schwung bekam für seinen Weg durchs Abflussrohr. Bei diesen Toiletten von damals landet die Wurst nicht gleich im Wasser, sondern erst auf einer waagerechten Fläche. Er zielte immer auf die Rundung zwischen diesem Plateau und oberem Toilettenrand. Wenn ihm dies nicht auf Anhieb gelang und die Wurst noch wie eine tote Maus unten im Loch schwamm, war mindestens eine weitere Ladung Wasser in den Abfluss nötig, im äußersten Fall ein starker Strahl direkt aus dem Eimer. Manchmal missachtete er die Anordnung der Mutter und zog doch die Spülung. Dazu musste man nur das Ventil am Zuleitungsrohr wieder aufdrehen, das sie oft verschlossen hatte, um ihrer Anweisung mehr Nachdruck zu geben. Meist aber unterwarf er sich der Prozedur mit der Konservendose, mit einigem Widerwillen. Vor allem schämte er sich, seinen Freunden gegenüber. Immer, wenn Besuch kam, eilte er als erstes ins Bad und stellte die Eimer in sein Zimmer nebenan. Meist bat er die Freunde auch gar nicht herein, sondern redete mit ihnen durch die halb geöffnete Haustür. Nur wenige Male saßen sie, zum „Stratego“- oder Schachspielen, in der unaufgeräumten Küche, in Bergers kaltem Zimmer oder im Wohnzimmer, das immer erst aufgeheizt werden musste. Berger hätte seinen Freunden gern einen gemütlicheren Ort geboten. Jahre später bekam er einmal von einem in der Runde zu hören, die Familie Berger sei nicht sehr gastfreundlich, was ihm einen Stich gab.
Читать дальше