1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 Seit fast sieben Jahren arbeite ich beim lokalen Radiosender meiner Heimatstadt Altenkirchen. Flächenmäßig ist Altenkirchen verglichen mit seinen Nachbarstädten Köln und Düsseldorf nahezu ein Bauerndorf. Davon abgesehen kann es durchaus mit den benachbarten Weltmetropolen mithalten. Wir können uns vor allem mit unserem historischen Stadtkern rühmen, dem idyllischen See am Stadtrand und den urigen Gässchen, die überall, versteckt zwischen modernen Straßen und Hochhäusern, zu finden sind. Den vielen Touristen und Geschäftsleuten aus den umliegenden Gegenden, die oft in Altenkirchen übernachten, verdanken wir ein extrem gut ausgebautes Verkehrsnetz, vor allem aber – und das ist das Wichtigste – erstaunlich gute Einkaufsmöglichkeiten. Vom Feinkostgeschäft über den Fachmarkt bis hin zur Luxusboutique ist alles vertreten, was das Frauenherz – insbesondere meines – höher schlagen lässt. Das ist der Grund dafür, weshalb ich gerne hier lebe. Man hat alles, was auch eine echte Großstadt zu bieten hat, und genießt trotzdem die Ruhe einer Vorstadt.
Im Gegensatz dazu ist unser Radiosender eher provinziell. A-live hat zwar einen trendigen Namen, das ist dann aber auch schon alles. Unserer Playlist sind zu viele Achtzigerjahre-Hits beigemischt, unsere Beiträge bewegen sich zu oft fernab der Zielgruppeninteressen, und unsere Comedy ist zu flach, um mit einem wirklich gefragten Popsender mithalten zu können. Nichtsdestotrotz ist A-live heute, zehn Jahre nachdem wir on air gegangen sind, gefragter denn je. Obwohl ich bisweilen über das Musikschema, die Gags meiner Kollegen und die pseudoseriösen Beiträge nur den Kopf schütteln kann, setze ich mich jeden einzelnen Morgen mit Freude ins Studio. Auch wenn ich dafür um halb fünf aufstehen muss.
Seit drei Jahren bin ich bei A-live festangestellt, und genauso lange moderiere ich auch schon an fünf Tagen die Woche von sechs bis zehn die Morgensendung Frühaufsteher . Radiomoderatorin zu werden war nicht immer Teil meiner Lebensplanung. Im Gegenteil. Nach dem Abitur hatte ich zuerst etwas ganz anderes vor: Ich wollte es meinem Bruder gleichtun und BWL studieren. Davon erhoffte ich mir, später einen Spitzenjob mit Topverdienst zu ergattern. Als ich Tim von meinem genialen Vorhaben berichtete, bekam er einen Lachkrampf, bei dem ich fürchtete, er würde daran ersticken.
„Du?!“, keuchte er. „Du willst in die Wirtschaft? Du weißt doch nicht mal, wie viel fünf Prozent von hundert sind!“
Nun ist es keinesfalls so, dass mein großer Bruder mich nicht für voll nimmt oder in mir ein dummes, kleines Mädchen sieht, das besser hinter dem Herd aufgehoben wäre. Normalerweise unterstützt er mich bei allem, was ich mir in den Kopf setze, und steht mir jederzeit mit Rat und Tat zur Seite. Kritik von ihm nehme ich immer ernst. Nur in diesem speziellen Fall fand ich seine Zweifel vollkommen unberechtigt.
„Sehr witzig. Basale Mathematik beherrsche ich schon noch“, schmollte ich damals.
„Da geht’s aber nicht um basale Mathematik, Mia“, erklärte er mir in väterlichem Tonfall. „Sondern darum, wie die Finanzwelt funktioniert. Glaubst du nicht, das ist eine Nummer zu hoch für dich?“
Nein, das glaubte ich nicht. So setzte ich mich zum ersten Mal über die gutgemeinten Ratschläge meines Bruders hinweg und schrieb mich an der Uni für Betriebswirtschaft ein. Zwei Semester lang beschäftigte ich mich mit operativem Controlling, makroökonomischen Theorien und Supply-Chain-Management, doch deren tieferer Sinn blieb mir verborgen. Ein weiteres Semester lang klammerte ich mich an die Aussicht auf das prallgefüllte Konto, über das ich eines Tages verfügen würde, bis ich schließlich einsah, dass man das vielleicht auch haben könnte, ohne einen Analysis-Kurs besucht zu haben.
Während Tim meinen Studienabbruch mit gleichgültiger Gelassenheit hinnahm, ganz nach dem Motto: „Hab ich's nicht von Anfang an gesagt?“, war mein Vater weniger angetan. Womit ich denn gedächte, mein Geld zu verdienen, jetzt, wo ich an der Uni gescheitert war? Es kostete mich einige Überzeugungskraft, um ihm klarzumachen, dass ich weniger gescheitert war, als viel mehr die Erkenntnis gewonnen hatte, dass die vielen Prüfungen und der Lernaufwand mich nicht erfüllten. Außerdem hätte ich ja noch meinen Nebenjob, der mich über Wasser halten würde, solange ich herausgefunden hatte, worin eben diese Erfüllung bestand. Neben dem Studium hatte ich schon bei A-live gejobbt, wo ich gelegentlich Sondersendungen moderierte und einzelne Redaktionsbeiträge verfasste. Die Arbeit dort hatte mir von jeher bedeutend mehr Spaß gemacht als das stupide Erstellen von Buchführungen. Ich hatte einen Beruf beim Radio nur aus dem Grund nicht in Betracht gezogen, weil es sich damit nun einmal nicht reich werden ließ, und das war es schließlich, was ich beabsichtigte. Da sich aber auch nach einem weiteren Jahr, das ich mit meiner freien Mitarbeit bei A-live überbrückt hatte, keine echte Jobalternative aufgetan hatte, begrub ich endgültig meinen Traum, irgendwann das große Geld zu machen, und beschloss das zu tun, was ich konnte und liebte: hinter dem Mikrophon sitzen und für Unterhaltung sorgen. Da ich anscheinend das Talent besaß, die Hörer mit meiner Begeisterung für Musik anzustecken, bot mir der Redaktionschef vor drei Jahren endlich eine unbefristete Stelle und einen festen Sendeplatz an. Ich unterschrieb sofort. Mein Gehalt kommt nicht einmal annähernd an das heran, was ich mir früher erträumt hatte, aber für mich alleine reicht es vollkommen.
Nun ja ... es reichte vollkommen, denke ich missmutig, als ich fünf Minuten vor Sendungsbeginn in die Sprecherkabine platze, in der mein Co-Moderator Simon Ackermann bereits breitbeinig hinter dem Mischpult sitzt und an einer Tasse Kaffee nippt.
„Guten Morgen, schöne Frau“, grinst er mich an, während ich abgehetzt meine Tasche in die Ecke schleudere und mich auf den Drehstuhl neben ihn fallen lasse.
Simon behauptet von sich selbst, er habe die erotischste Stimme Deutschlands, bezeichnet sich mit Stolz als Womanizer und ist, nebenbei bemerkt, mein Exfreund. Ja, ich habe es fertig gebracht, mich mit einem Kollegen einzulassen. Nicht sehr clever, ich weiß. Das Ganze fing erst ganz harmlos mit ein paar Flirts an, kurz nachdem ich die gemeinsame Sendung mit ihm bekommen hatte. Dabei hätte es von mir aus gerne bleiben können, wären wir nicht nach der Betriebsweihnachtsfeier in reichlich angetrunkenem Zustand im Bett gelandet. Danach waren wir für eine Weile ein Paar. Leider steckte Simon von Anfang an in diese Beziehung sehr viel mehr Energie und Leidenschaft als ich. Denn es ist nun einmal so – das muss ich an dieser Stelle gestehen –, dass ich mit diesem Pärchen-Unsinn nichts anfangen kann. Im Gegensatz zu allen anderen Frauen, die ich kenne und bei denen ich mit meiner Einstellung regelmäßig tiefe Bestürzung auslöse, halte ich die Liebe für einen einzigen, großen Schwindel. Ein Märchen, an das Erwachsene glauben, weil ihr Leben ansonsten reichlich trostlos wäre.
Sicher, ich war auch schon mal verknallt. Und ich weiß, dass dieses Gefühl vorübergehend ganz nett sein kann. Genauso gut weiß ich aber auch, dass diese hormonelle Verwirrung nach einer Weile so schnell verfliegt, wie sie gekommen ist. Für eine Zeitlang ist es vielleicht ganz schön, jemanden an seiner Seite zu haben, doch letztendlich bedeutet eine Beziehung nichts anderes, als pausenlos Kompromisse einzugehen. Man macht sich abhängig von einem anderen Menschen, muss auf seine Gedanken, Gefühle und Wünsche eingehen und seine eigenen Interessen dafür zurückstellen. Dazu bin ich nicht bereit. Nicht umsonst hat Marilyn Monroe schon vor über fünfzig Jahren gepredigt, Diamanten seien die beste Freunde eines Mädchens. Männer und ihre Vorteile hin oder her – Luxusgüter haben einfach mehr Bestand. Sie halten das, was sie versprechen, und betrüge dich niemals mit einer Jüngeren und Schöneren. Deshalb kann ich mit lockeren Affären viel mehr anfangen. So bewahrt man seine Freiheit und hat trotzdem jemanden, mit dem man sich die langweiligen Sonntage vertreiben kann, an denen sowieso keine Läden geöffnet haben. Auf Dauer ist das natürlich kein Zustand. Irgendwann einmal würde ich schon gerne ein ernsthafte Beziehung führen. Alleine alt zu werden und zu sterben ist ja auch keine Alternative. Aber es eilt nicht. Ich bin jung, und im Moment gibt es wichtigere Dinge in meinem Leben.
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