„Blödsinn“, fällt er mir erneut ins Wort. „Das sind alles lahme Ausreden. Glauben Sie mir, ich kann auch andere Seiten aufziehen. Das Geld bekomme ich jetzt bar von Ihnen und zwar allerspätestens morgen Mittag. Ist das klar?“ Drohend fuchtelt er mit seinem wurstigen Zeigefinger vor meiner Nase herum.
Ich schlucke hart. „Morgen? Ähm ... morgen ist es schlecht. Da bin ich den ganzen Tag nicht zuhause.“
„Das ist sehr bedauerlich“, lächelt er diabolisch. „Aber wenn Sie sowieso nicht hier sind, wird es Ihnen sicher auch nichts ausmachen, wenn ich Ihnen Ihr Warmwasser abstelle, nicht wahr?“
Rumms . Eine der Taschen stürzt zu Boden und spuckt ihren Inhalt auf den schmutzigen Hausflurboden. Da hat sich Frau Dressler aus dem zweiten Stock wohl nicht an den Putzplan gehalten.
„Nein!“, rufe ich entsetzt. „Bitte. Nicht das Warmwasser! Das brauche ich!“
„Und ich brauche Ihr Geld, Frau Herrlich.“
Was für ein gemeiner, erpresserischer ... Ich unterdrücke die Flüche, die mir auf der Zunge liegen, und entscheide mich zu einer Verzweiflungstat. „Herr Schlüter, ich habe das Geld nicht“, gestehe ich zu meiner eigenen Schande und möchte vor Scham im Erdboden versinken.
„Was Sie nicht sagen“, schnaubt er. „Genug Geld für Mungobohnenkeime haben Sie offensichtlich noch.“ Abfällig deutet er auf die Konservendose, die auf dem Boden herumrollt.
Mit glühenden Wangen bücke ich mich und stopfe meine Einkäufe zurück in die Tasche. „Die waren im Angebot“, murmele ich. Waren sie auch. Ehrlich! Auch wenn ich keine Ahnung habe, was ich eigentlich damit wollte. „Es ist nur so ...“
Irgendwie muss mir jetzt sofort eine logische Erklärung einfallen, weshalb ich unmöglich bis morgen die vierhundertachtzig Euro für die Miete in bar beschaffen kann. In der Sekunde fällt mir die leicht geöffnete Wohnungstür von Herrn Schlüter ins Auge, die den Blick in seinen Flur freigibt. An dessen Wand hängt gut sichtbar ein Kruzifix. Wenn er so gläubig ist, wie es den Anschein hat, lässt seine Nächstenliebe zu wünschen übrig, denke ich grimmig, doch das Kreuz bringt mich auf die entscheidende Idee.
„Meine Tante“, bringe ich hervor und rappele mich wieder auf. „Sie ist ... gestorben.“
Mein Vermieter runzelt die Stirn. „Was hat das mit der Miete zu tun?“
„Sie ... ich war die Einzige, zu der sie noch Kontakt hatte, und ich ... musste ganz allein für ihr Begräbnis aufkommen“, schwindele ich. Eine krude Geschichte. Sehr unglaubwürdig. Aber das Beste, was mir auf die Schnelle in den Sinn gekommen ist. „Wissen Sie, wie teuer ein anständiger Sarg ist? Man will seine Verwandten ja nicht in der schäbigsten Holzkiste unter die Erde lassen“, fabuliere ich weiter. „Dafür muss man schon einiges hinblättern. Abgesehen davon hat mich ihr Tod sehr mitgenommen. Da konnte ich mich wirklich nicht auch noch um die Miete kümmern“, vollende ich mein Lügenmärchen.
Herr Schlüter mustert mich argwöhnisch. „So, so. Sie mussten für das Begräbnis Ihrer Tante aufkommen und haben deshalb kein Geld für die Miete mehr?“
„So ist es“, nicke ich und gucke möglichst bemitleidenswert.
Leider wirkt er nicht hinreichend überzeugt. „Frau Herrlich? Sie haben sich das doch nicht etwa ausgedacht, oder?“
Wow. Er ist gut. So viel Scharfsinn hätte ich ihm nicht zugetraut.
Empört schnappe ich nach Luft. „Wieso sollte ich es mir ausdenken?! Also wirklich, Herr Schlüter. Wie geschmacklos, mir so etwas zu unterstellen!“
Entschuldigend hebt er die Hände. „In Ordnung, ich glaube Ihnen. Trotzdem. Das geht so nicht weiter. Verstorbene Tante hin oder her. Da könnte ja jeder kommen. Es ist mir egal, wo Sie das Geld hernehmen. Wenn es nächste Woche nicht endgültig da ist, ist meine Geduld am Ende.“
Erleichtert atme ich auf. „Selbstverständlich. Nächste Woche bekommen Sie Ihre Miete. Hoch und heilig versprochen!“, beteure ich mit einem Blick auf das Kruzifix.
„Ich nehme Sie beim Wort“, knurrt er und trollt sich zurück in seine Gemächer, während ich meine Taschen wieder aufnehme und sie ächzend bis ins Obergeschoss trage.
Diesmal bin ich mit blauem Auge davongekommen. Aber langsam dämmert mit, dass mir innerhalb der nächsten sechs Tage dringend eine Erleuchtung kommen muss. Anderenfalls sollte ich mir für die nächste Begegnung mit Herrn Schlüter schon mal eine kugelsichere Weste zulegen.
„Es ist wirklich dringend! Anderenfalls müssen wir gewisse Maßnahmen ergreifen.“
Ich brauche Geld, und zwar schnell!
Wenn mein Vermieter schon damit droht, mir das warme Wasser abzustellen, ist die Lage möglicherweise ernster als gedacht. Zum Glück habe ich den Lottoschein.
Aufgeregt wie ein kleines Mädchen, das an Heiligabend darauf wartet, von seinen Eltern ins Wohnzimmer gerufen zu werden, um all die Geschenke unter dem Christbaum auspacken zu dürfen, schaue ich am Mittwochabend die Tagesschau und warte auf die Verkündung der aktuellen Ziehung.
„Und hier die Lottozahlen für Mittwoch, den elften Mai“, sagt die Sprecherin. „Eins, zwanzig, vierundzwanzig, sechsundzwanzig, siebenundzwanzig, vierzig. Zusatzzahl achtzehn. Die Superzahl ist vier.“
Wie bitte?! Was sind denn das für Zahlen? Welcher vernünftige Mensch auf Erden würde vier Zahlen im Zwanziger-Bereich tippen? Das gibt es nicht!! Verstört greife ich zu meinem Schein, obgleich ich mich ziemlich genau zu erinnern glaube, nicht diese absurde Kombination angekreuzt zu haben. Und meine Ahnung bestätigt sich. Ich habe keine einzige Zahl richtig getippt! Ist das zu glauben?! Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen. Wieder und wieder vergleiche ich meinen Schein mit den Nummern auf dem Bildschirm. Das Ergebnis bleibt dasselbe. Ich gehe leer aus. Komplett leer. Ohne einen einzelnen Cent. Das lässt mich fast eine Verschwörung vermuten. Erst Georg, der mich um meine wohlverdiente Gehaltserhöhung bringt, und jetzt das. Da bemühe ich mich, meine finanzielle Krise in den Griff zu bekommen, und dann werden mir nur Steine in den Weg gelegt. Gerechtigkeit ist etwas anderes!
Wütend schalte ich den Fernseher aus. Entweder tippe ich am Samstag noch einmal und hoffe auf ein Wunder, oder ich lasse mir etwas einfallen, das nicht vom Schicksal abhängig ist ...
*
Der Geistesblitz lässt auf sich warten. Am Donnerstag nach der Arbeit bin ich genauso ratlos wie all die Tage zuvor. Deprimiert hänge ich meine Tasche an die Garderobe und erhasche dabei einen kurzen Blick auf mein Spiegelbild. Meine Sorgen sind mir förmlich ins Gesicht geschrieben. Ich erkenne mich kaum wieder. Bisher war ich stolz auf mein geordnetes, unabhängiges Leben. Ich habe es genossen, tun zu können, worauf ich Lust habe, und mir all das kaufen zu können, wonach mir dir Sinn steht, weil ich jung bin und auf niemanden außer mich selbst Rücksicht nehmen muss. Wenn mich je jemand gefragt hätte, was ich gerne ändern würde, hätte ich ihm geantwortet: gar nichts. Ich war rundum zufrieden mit dem Leben, das ich führte.
Und jetzt?
Jetzt ist mein ach so tolles Leben dabei, den Bach runterzugehen, und alles nur wegen ein paar Anschaffungen, die ich mir in Wahrheit nicht leisten konnte. Allmählich sickern die Fakten in meinen Verstand: Diesmal kann ich die Angelegenheit nicht verdrängen, so wie ich es gerne mit allen Unannehmlichkeiten tue, die das Leben zu bieten hat. Einfach vergessen, nicht drüber nachdenken, unter den Teppich kehren (oder in der Schublade verstecken) – darin bin ich gut. In den meisten Fällen klappt das auch ziemlich gut. Lästige Stolpersteine, die einem in den Weg gelegt werden, zu ignorieren erspart einem jede Menge Stress und Ärger. Das Heimtückische daran ist nur, dass sie sich mit der Zeit ansammeln, größer werden und eine ganze Mauer bilden, die unübersehbar ist. Verschließt man dann vor ihr die Augen, läuft man früher oder später mit voller Wucht dagegen, und das wird dann in jedem Fall sehr, sehr schmerzhaft.
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