Mein Bruder ist nur fünf Jahre älter als ich.
Wenn ich vor seinem Haus stehe, kommt es mir trotzdem jedes Mal so vor, als wäre er mir Jahrzehnte voraus. Im Gegensatz zu mir hat Tim nämlich – für einen Mann untypischerweise – schon sehr früh einen regelrechten Nestbautrieb an den Tag gelegt. Mit siebenundzwanzig, als er so alt war wie ich jetzt, ist er mit seiner Freundin zusammengezogen, hat dann das Projekt Familienplanung gewissenhaft, wie es seine Art ist, in Rekordzeit abgeschlossen und wohnt heute, mit dreiunddreißig, in einem Reihenendhaus mit Vorgarten und Kiesauffahrt. Wäre er nicht mein großer Bruder, den ich mehr als alles auf der Welt liebe (sogar noch mehr als meine Kate-Spade-Tasche, und die ist wirklich mein Ein und Alles!), würde ich ihn für die Ausgeburt des Spießertums halten. Zum Glück ist Tim trotz seines kleinbürgerlich angehauchten Lebenswandels genauso cool drauf wie mit achtzehn, als ihm sämtliche Mädchen der Mittelstufe zu Füßen lagen. Nur mit dem Unterschied, dass ihm heute bloß noch eine zu Füßen liegt und mit ihm das Bett teilt: seine Frau und meine beste Freundin Carolin. Sie und ich kennen uns seit der fünften Klasse, und wenn ich es recht bedenke, müsste sie auf ewig in meiner Schuld stehen. Denn ich bin diejenige gewesen, die Tim und sie zusammengebracht hat. Wer weiß, was aus ihnen geworden wäre, hätte ich damals nicht das entscheidende Date arrangiert? Zugegeben, ich habe nicht aus reiner Nächstenliebe gehandelt. Dahinter steckte purer Egoismus. So wusste ich Tim erstens in guten Händen und nicht bei einer von diesen aufgetakelten, strohköpfigen Tussis, die er früher oft nach Hause brachte, und zweitens blieb mir Carolins Freundschaft erhalten, weil sie ihre Freizeit nicht allein mit irgendeinem Typen verbrachte, den ich nicht kannte. Auf diesem Weg konnten wir oft etwas zu dritt unternehmen, ohne dass ich mich wie das fünfte Rad am Wagen zu fühlen brauchte. Meine beste Freundin mit meinem Bruder zu verkuppeln war der genialste Einfall, den ich je in meinem Leben hatte (vielleicht abgesehen vom Kauf dieses atemberaubenden Miu-Miu-Kleides, in dem mein Busen zwei Körbchen größer erscheint). Die beiden haben durch mich zu ihrem Traumpartner gefunden. Da ist es definitiv an der Zeit für sie, sich bei mir zu revanchieren!
Und der heutige Samstag ist die ideale Gelegenheit dazu. Ich habe extra bis zum Wochenende gewartet, da es die Chancen erhöht, meinen Bruder einigermaßen gutgelaunt, da ausgeschlafen anzutreffen. Frohen Mutes drücke ich auf den Klingelknopf und setze sicherheitshalber ein fröhliches Lächeln auf. Soll ja niemand auf die Idee kommen, ich könne hilfebedürftig sein. Kaum ist die Klingel verstummt, bricht im Haus ein markerschütterndes Gebrüll los, bei dem ich mir selbst hier draußen am liebsten die Ohren zuhalten würde. Einige endlose Sekunden lang geschieht gar nichts. Ich will gerade ein zweites Mal läuten, als sich schließlich doch die Tür öffnet und ein ziemlich zerrupft aussehender Tim mit meinem heulenden Neffen Nick auf dem Arm vor mir steht.
Ein Anblick, an den ich mich immer noch nicht ganz gewöhnen kann, obwohl er sich mir seit über einem halben Jahr in großer Regelmäßigkeit präsentiert. Bis dato hatte Tim als Unternehmensberater für einen gigantischen Konzern gearbeitet. Nicht nur das – er hatte eine regelrechte Spitzenposition inne. Mit seinem Jahresgehalt hätte man einen afrikanischen Kleinstaat von der Hungersnot befreien können. Der Preis dafür war der beinahe vollständige Verzicht auf Freizeit. Siebzig-Stunden-Wochen stellten den Regelfall dar. In seinem kompletten ersten Ehejahr hat er Carolin fast ausschließlich schlafend zu Gesicht bekommen, weil sie bereits im Bett war, wenn er nach Hause kam. Schätzungsweise hätte er ewig so weitergemacht, hätte die Sklavenarbeit vor einem Jahr nicht ihren Tribut gefordert. Nach monatelangen Beschwerden diagnostizierte man ihm ein Magengeschwür, und plötzlich wurde ihm klar, dass er vielleicht einen Gang zurückschalten sollte, wenn er die Einschulung seiner Kinder noch erleben wollte. Nachdem Nick auf die Welt kam, einigten er und Carolin sich darauf, dass er ein Sabbatjahr einlegen würde und sie vorerst zur Alleinverdienerin wird. Mit ihrer Stelle als Immobilienmaklerin verdient sie gerade genug, um eine vierköpfige Familie eine Zeitlang durchzubringen. Seitdem ist Tim in seiner Rolle als Hausmann richtig aufgeblüht. Er sagt, er kann sich gar nicht mehr vorstellen, je wieder etwas anderes zu machen. Ich finde die Vorstellung von ihm beim Bügel oder Putzen zuweilen etwas befremdlich, aber solange es ihn glücklich macht, werde ich einen Teufel tun, ihn davon abzuhalten.
Als er mich nun, verwundert über meinen Überraschungsbesuch, anschaut, behalte ich trotz des enormen Lautstärkepegels mein Lächeln bei und halte die Brötchentüte hoch, die ich auf dem Weg hierher besorgt habe. „Ich wette, ihr habt noch nicht gefrühstückt!“
„Mia?“ Vielleicht glaubt er an eine schlafmangelbedingte Halluzination.
„So nennt man mich, ja. Aber das ist nur meine Tarnidentität. In Wahrheit bin ich Shoppinggirl. Die Frau, die unschuldige Kleidungsstücke aus den Geschäften befreit“, scherze ich.
„Was machst du denn so früh morgens hier?“, erkundigt er sich halb schreiend, um Nicks Krakeelen zu übertönen.
„Es ist acht. Für meine Verhältnisse ist das spät“, entgegne ich und trete unaufgefordert ein. Ich blicke an ihm herab. „Außerdem bist du angezogen. Das heißt, du musst seit mindestens zwei Stunden wach sein.“
Aus seinen Erzählungen weiß ich, dass es in einem Haushalt mit Baby als Erfolg zu verzeichnen ist, wenn man es schafft, sich vor zehn Uhr morgens halbwegs ansehnlich herzurichten.
Endlich macht sein verwirrter Gesichtsausdruck einem leichten Grinsen Platz. „Seit drei, um genau zu sein.“
„Lass mich raten: Genauso lange schreit er auch schon?“, tippe ich und nicke in Richtung meines weinenden Neffen.
„Ungefähr, ja.“
„Was hat er?“
„Er hat angefangen zu zahnen“, sagt mein Bruder mit diesem stolzen Unterton, den nur Eltern draufhaben und mit dem sie sogar die Erzählung, wie ihr Nachwuchs zum ersten Mal aufs Töpfchen gegangen ist, klingen lassen, als habe er den K2 bezwungen.
„Ein Grund mehr, keine Kinder zu bekommen.“
„Eines fernen Tages wirst auch du die Freuden des Elterndaseins zu schätzen wissen“, orakelt er.
„Mit Betonung auf fern.“
Er lächelt schief. „Kannst du mir bitte mal verraten, warum du am Samstag um acht Uhr bei uns auf der Matte stehst. Wir hätten alle noch schlafen können.“
„Wir wissen beide, dass Wochenenden für euch nicht existieren. Also freu dich lieber, dass du in den seltenen Genuss kommst, mit deiner Schwester frühstücken zu dürfen“, halte ich dagegen und drücke ihm die Brötchen in die freie Hand. „Ich decke sogar den Tisch, wenn du es schaffst, diese Sirene da zum Schweigen zu bringen“, füge ich mit Blick auf Nick hinzu.
Er will etwas antworten, wahrscheinlich: „Rede nicht so gemein über meinen Sohn“, doch er kommt nicht dazu, denn in diesem Moment poltern zwei Kinderfüße die Treppe herunter, gefolgt von nicht weniger lautstarken Erwachsenenschritten.
„Alina! Dein Rock! Wir müssen den Rock noch anziehen“, höre ich Carolin rufen, aber meine Nichte hat anscheinend beschlossen, heute ohne Rock herumzulaufen. Sie kommt bloß mit T-Shirt und Unterhose bekleidet die letzte Stufe heruntergehüpft und springt mir von dort aus direkt in die Arme.
„Mia!“
„Hey, kleine Maus“, lache ich über ihre stürmische Begrüßung und wirbele mit ihr einmal im Kreis herum.
Sie strahlt mich an.
Alina ist das einzige Argument, was mich noch nicht vollends von dem Gedanken abgebracht hat, irgendwann einmal Kinder zu bekommen. Mit ihren honigblonden Haaren und den pazifikblauen Augen sieht sie aus wie eine Miniaturausgabe von Carolin, die die gleichen weichen Gesichtszüge hat. Nick hingegen lässt mit seinen sieben Monaten bereits mehr die markante Kinnpartie und das dichte, braune Haar meines Bruders erkennen. Natürlich benimmt sich Alina keineswegs immer so engelhaft wie sie aussieht. Für ihre vier Jahre ist sie geradezu beängstigend clever und nutzt ihr Pfiffigkeit mit Vorliebe dazu, ihre Eltern in den Wahnsinn zu treiben. Mich dagegen kann sie mit einem einzigen Augenaufschlag komplett um den Finger wickeln.
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