„Mia, ist alles okay bei dir?“, fragt er mit den zwei Sorgenfalten auf der Stirn, die er früher immer bekommen hat, wenn er fürchtete, ich könne in Schwierigkeiten stecken. Womit er zum ersten Mal seit Jahren wieder recht hat und mir somit eine Steilvorlage liefert.
Ich schlucke. Jetzt oder nie.
„Nein“, sage ich ehrlich. „Es ist nichts okay.“
Er nickt. „Wusste ich's doch.“
Aus Verlegenheit kehre ich die Brötchenkrümel auf meinem Teller mit dem Messer zu einem Häufchen zusammen. Was soll ich jetzt sagen?
„Hast du Stress mit 'nem Typen?“, hilft er mir auf die Sprünge.
Ein bitteres Lachen entfährt mir. „Ja. So könnte man es sagen.“
„Hab ich mir gedacht“, seufzt er. „Was ist es diesmal? Hast du wieder jemandem das Herz gebrochen?“
Tz. Wieder . Als wäre das bei mir an der Tagesordnung! Ja, schon gut, es ist das ein oder andere Mal vorgekommen. Irgendwie gerate ausgerechnet ich immer an die Männer, die entgegen aller gängigen Klischees total auf feste Bindungen abfahren und nicht mit meiner Einstellung zu Beziehungen im Allgemeinen und Besonderen klarkommen. Was kann ich denn bitte dafür? Schließlich kläre ich die Fronten von Anfang an. Nur wollen sie am Ende nichts davon gewusst haben.
„Nein“, winke ich ab. „Es ist nur ... Ich bräuchte da bei etwas deine Hilfe.“
„Bedrängt dich etwa jemand?“, fragt er bestürzt.
„Ziemlich, ja.“
Tims Beschützerinstinkt ist geweckt. Sein Blick verfinstert sich. „Wer ist der Kerl?“
„Mein Vermieter.“
Seine Augen weiten sich. „Du hast was mit deinem Vermieter?!“
„Schwachsinn! So meinte ich das nicht“, stelle ich schnell richtig. „Er ist etwas ... wütend auf mich.“
Mein Bruder entspannt sich sichtlich. „Wieso?“ Beinahe amüsiert lehnt er sich zurück. „Hast du die Miete nicht bezahlt, oder was?“
Volltreffer! Mein Bruder sollte unter die Mentalisten gehen.
„Könnte sein“, murmele ich und vergrößere den Krümelhaufen auf meinem Teller.
Sogar ohne hinzusehen, bemerke ich, wie das Schmunzeln aus seinem Gesicht verschwindet. „Wie, könnte sein?“
Widerwillig reiße ich meinen Blick vom den Brötchenüberresten los und wage es, ihm in die Augen zu schauen. „Ich habe die Miete für diesen Monat noch nicht überwiesen.“
Tim blinzelt mich verständnislos an. „Warum nicht?“
„Vergessen?“, versuche ich es zunächst mit einer Erklärung, die nicht zu weit von der Wahrheit entfernt ist und trotzdem nicht alle Einzelheiten der genaueren Umstände offenbart.
„Verstehe ich nicht. Wieso hast du das Geld nicht überwiesen, nachdem er dich daran erinnert hat?“
Guter Punkt.
„Das hatte ich vor ...“
„Aber?“
„Tja ...“ Ich kichere nervös. „Genau das ist das Problem.“
„Welches worin besteht?“, hakt er mit wachsender Ungeduld nach.
Ich muss es ihm sagen. Es führt kein Weg daran vorbei. Auch wenn es peinlich und demütigend wird und er alles andere als begeistert sein wird, er ist trotz allem mein Bruder. Wenn ich mich ihm nicht anvertrauen kann, wem dann? All meinen Mut zusammennehmend atme ich einmal tief durch. Augen zu und durch.
„Ich wollte die Miete ja bezahlen“, fange ich an. „Nur ist mir da letzte Woche was echt Blödes passiert. Mir sind die Kreditkarten gesperrt worden. Als ich einen Kontoauszug gedruckt habe, habe ich festgestellt, dass ich da wohl kleines bisschen in den Miesen bin.“
„Was heißt 'ein kleines bisschen'?“
„So genau weiß ich es jetzt gar nicht mehr“, druckse ich herum.
„Ungefähr!“
„So etwa ... fünf.“
„Hundert?“
„Tausend“, gestehe ich kleinlaut.
Tim stiert mich an. „Du hast fünftausend Euro Schulden?!“
„Nun, ich würde es nicht unbedingt 'Schulden' nennen ...“
„Sondern?“
„Vielleicht ... einen kleinen Ausgabenüberschuss?“
„Einen ziemlich großen Ausgabenüberschuss, meinst du wohl!“
„Meinetwegen auch das.“
Er schüttelt den Kopf. „Fünftausend Euro! Ich fasse es nicht!“
„Genauer gesagt, könnte es auch etwas mehr sein. Ich habe noch nicht alle Rechnungen aufgemacht, die zuhause herumliegen.“
„Noch nicht alle Rechnungen aufgemacht?!“ Seine Stimme schwillt an.
„Und ein paar Mahnungen dürften wohl auch dabei sein.“
„Mahnungen?!“, ruft er, während die Ader an seinem Hals gefährlich hervortritt.
„Könntest du aufhören, alles zu wiederholen? Es einmal auszusprechen ist schlimm genug.“
Aufgebracht fährt er sich mit der Hand durchs Haar. „Mia! Wie ... wie hast du das angestellt? Ich meine ...“ Er stockt. „Du ... wohnst in dieser winzigen Wohnung. Du fährst dieses uralte Auto. Du hast keinen Kredit aufgenommen. Wofür hast du denn all das Geld ausgegeben?“
„Ich ... ich weiß es nicht. Ich habe nur ein paar Sachen gekauft.“
„Nur ein paar Sachen?!“
Fängt das schon wieder an.
„Gibt es hier drin ein Echo?“, spotte ich leicht verärgert.
„Entschuldige.“ Er räuspert sich. „Ich verstehe es einfach nicht.“
„Na ja, es waren ein paar teure Sachen“, lenke ich ein.
„Offensichtlich! Was denn zum Beispiel?“
„Der Fernseher. Die Hifi-Anlage. Dieses eine Kleid von Vivienne Westwood ... Aber das war reduziert“, füge ich hastig hinzu. „Wirklich!“
Mein Bruder fasst sich mit beiden Händen an die Stirn und schließt für einen Moment die Augen. Eigentlich neigt er nicht zu Wutausbrüchen. Nun habe ich das Gefühl, er steht kurz vor einem Tobsuchtsanfall und muss sich selbst dazu zwingen, nicht die Kontrolle über sich zu verlieren. Um ehrlich zu sein, bin ich echt eingeschüchtert. Ich hatte gehofft, er würde in diesem Fall seine liebenswürdige, verständnisvolle Seite zeigen ...
„Hör zu! Ich weiß, ich habe Scheiße gebaut“, gebe ich offen zu. „Nur kann ich das jetzt gerade nicht rückgängig machen. Die Sache ist die: Herr Schlüter will am Montag sein Geld haben, am besten in bar. Nur habe ich es nun mal nicht. Ich habe keine Ahnung, was passiert, wenn ich versuche, auch nur zehn Euro von meinem Konto abzuheben, und offen gesagt, bin ich nicht scharf darauf, es auszuprobieren. Deshalb wollte ich dich fragen ... ob du mir eventuell ... etwas leihen könntest.“
Ruckartig blickt er wieder zu mir auf, nachdem er sich die letzte Minute lang wie wild die Schläfen massiert hat.
„Nur so viel, damit mein Konto wieder gedeckt ist“, rede ich weiter, um ihm die Bedenken zu nehmen, bevor er sich vorschnell dagegen entscheiden kann. „Ich zahle es dir sofort zurück, sobald ich es habe. Das verspreche ich dir hoch und heilig!“
Einen Moment lang schaut er mich bewegungslos an. „Mia, ich kann dir das Geld nicht geben“, sagt er dann.
Was ? Was soll das heißen? Vertraut er mir etwa so wenig??
„Tim, bitte !“, flehe ich. „Ich würde dich nicht fragen, wenn ich eine andere Möglichkeit sehen würde. Du kannst dich auf mich verlassen. Du bekommst es zurück! Sogar mit Zinsen! Meinetwegen können wir auch einen Vertrag oder so was abschließen, wenn du darauf bestehst!“ Meine Stimme klingt erstickt. Ich spüre Tränen der Verzweiflung in mir aufsteigen.
„Darum geht es nicht“, winkt er ab. „Ich kann dir das Geld nicht geben, weil ich es nicht habe.“
Sprachlos sehe ich ihn an. Er hat es nicht? Will er mich verarschen? Er und Carolin haben Unmengen an Geld! Das weiß ich hundertprozentig. Also, ich glaube es hundertprozentig.
„Wie, du hast es nicht?“, wiederhole ich nun genauso belämmert wie er vorhin.
„Wir haben keine fünftausend Euro oder 'auch etwas mehr'“, beharrt er.
„Aber ... das kann nicht sein. Ihr ... Ich dachte, ihr habt haufenweise Ersparnisse.“
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