Endlich entdecke ich eine winzige Parklücke zehn Hausnummern weiter. In einem halsbrecherischen Manöver setze ich den Mitsubishi zwischen die beiden anderen Autos und renne die letzten Meter zum Hauseingang. Mein Puls rast, und das nicht nur wegen des Sprints. Ich bin seltsam nervös. Zum ersten Mal werde ich mit einer fremden Person über mein Geldproblem sprechen, und mir schwant, das wird kein Zuckerschlecken. In meiner Vorstellung sehe ich einen korpulenten, ältlichen Herrn mit grauem Vollbart vor mir sitzen, der mich tadelnd über den Rand seiner goldgerahmten Gleitsichtbrille ansieht. Die Szene in meinen Gedanken hat ein bisschen was von Gott am Tag des Jüngsten Gerichts. Und ich komme in die Hölle ...
Mutlos betätige ich die Klingel. Tim öffnet mir sofort. Im Gegensatz zu Samstag sieht er diesmal ausgeschlafener aus und ist vor allem deutlich besser angezogen. In dem schwarzen Hemd und der tiefblauen Jeans wirkt er regelrecht respekteinflößend. Anscheinend bin ich nicht die einzige, die sich anlässlich dieses Termins etwas zurechtgemacht hat, denke ich, was nicht unbedingt zu meiner Erleichterung beiträgt. Das Ganze hat etwas extrem Förmliches und Erwachsenes an sich, und das schüchtert mich irgendwie ein.
„Na endlich!“, zischt er. „Wo warst du denn so lange?“
„Berufsverkehr“, schwindele ich und trete in den Flur. „Ist er schon da?“, flüstere ich ein wenig ängstlich.
„Seit einer halben Stunde“, setzt er mich vorwurfsvoll in Kenntnis.
Ich schlucke schwer.
„Komm mit. Wir sind im Wohnzimmer.“
Ich folge ihm mit weichen Knien. Dann mal rein ins Vergnügen.
„So, hier ist sie endlich“, sagt Tim und zieht mich förmlich ins Wohnzimmer. „Das ist Mia.“
Bei meinem Eintreten entdecke ich zuerst Carolin, die am Couchtisch steht und gerade jemandem ein Glas Mineralwasser einschüttet. Dann erblicke ich die Person, die sich in diesem Moment vom Sofa erhebt.
Ganz gleich, wie abwegig meine Vorstellung auch gewesen sein mag, nichts hätte mich mehr überraschen können als das . Vor mir steht nicht etwa ein ergrauter, schmerbäuchiger Uniprofessor, sondern ein dunkelblonder, schlanker Typ, kaum älter als ich. Die Tatsache, dass der Mann gut dreißig Jahre jünger ist als erwartet, bringt mich völlig aus dem Konzept, sodass ich ihn nur dümmlich anstarre. Statt meiner ergreift er die Initiative, indem er auf mich zukommt und mir die Hand entgegenstreckt.
„Hallo. Jan von Nettesheim. Freut mich, Sie kennenzulernen.“
Bedauernd stelle ich fest, schon wieder einem Anhänger der Siez-Fraktion begegnet zu sein, weswegen ich die Gelegenheit verpasse, seine Hand entgegenzunehmen.
„Mia?“, reißt Tim mich aus meinen Gedanken, der mich anklagend von der Seite anblickt.
Endlich löse ich mich aus meiner Starre. „ Sie sind der Schuldenberater?“
„Schuld ner berater“, korrigiert er mich und lässt seine Hand entmutigt sinken. „Und ja. Deswegen bin ich hier.“
Fragend schaue ich zu Tim. „Hast du nicht gesagt, er wäre dein Tutor gewesen?“, flüstere ich ihm zu.
„Das war er auch“, raunt er gereizt zurück. Offenbar schämt er sich meinetwegen gerade in Grund und Boden.
Okay, anscheinend habe ich eine völlig falsche Auffassung davon gehabt, was ein Tutor ist. Ich habe nicht lang genug studiert, um es herauszufinden. Zuhause werde ich Wikipedia zu Rate ziehen.
Verlegen räuspere ich mich. „Entschuldigung.“ Artig halte ich ihm nun doch meine Hand hin. „Ich war ein wenig überrascht. Ich hatte Sie mir älter vorgestellt.“
Beim zweiten Versuch bekommen wir das mit dem Handschlag hin. Er drückt kurz und kräftig zu. „Älter?“, fragt er verwirrt.
„Ja. Tim hat gesagt ...“
„Sie hat da wohl was missverstanden“, unterbricht Tim mich und schickt ein künstliches Lachen hinterher.
„Aha“, sagt er relativ desinteressiert.
Überhaupt hat er bis jetzt noch keine Miene verzogen. Dafür stelle ich bei genauerer Betrachtung fest, dass er unbestreitbar gut aussähe, würde er sich mehr Mühe geben. Womit ich nicht sagen will, dass er ungepflegt ist. Ganz im Gegenteil. Eher zu gepflegt. Er trägt ein weißes Hemd, das bis obenhin zugeknöpft ist, darüber einen grauen Anzug, der sitzt wie maßgeschneidert. Seine schwarzweiß-gestreifte Krawatte hängt so gerade herunter, als sei sie mithilfe einer Wasserwaage gebunden worden. Und die schwarzen Schuhe hat er heute entweder zum ersten Mal an, oder sie werden täglich geputzt. Ehrlich gesagt, tippe ich auf Letzteres. Zu dieser peniblen Aufmachung bilden seine Haare einen geradezu krassen Gegensatz. Sie sind gekonnt auf ungestylt gestylt und deshalb so durcheinander, als würde er sich ständig hindurchraufen. Vielleicht tut er das tatsächlich. Das wäre zumindest eine Erklärung für seinen freudlosen Gesichtsausdruck. Er sieht aus wie jemand, der sich in seinem Leben schon zu viele Sorgen gemacht hat. Alles in allem macht er einen ziemlich langweiligen Eindruck, was bei seinem Job auch nicht wirklich verwundert. Das einzig Interessante an ihm sind seine Augen. Einen solchen Grünton habe ich noch nie gesehen. Er erinnert mich an Smaragde. Doch so emotionslos, wie er mich damit ansieht, kann auch ihre ungewöhnliche Farbe nichts mehr wettmachen.
„Tja, also“, setze ich an, nachdem ich ihn etwas zu lang gemustert habe, „vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben herzukommen. Sie sind viel beschäftigt, habe ich gehört.“
„Keine Ursache. Ich hoffe, ich kann Ihnen weiterhelfen.“
„Einen Versuch ist es zumindest wert“, lache ich.
Er lacht nicht mit.
„Gut, wie wär's, wenn wir zwei euch allein lassen? Dann könnt ihr euch in Ruhe unterhalten“, schlägt Carolin vor, die unsere eher peinliche Begrüßungsszene von der Seite aus beobachtet hat.
„Meinetwegen“, sage ich, und auch mein Gegenüber nickt zustimmend.
Mein Bruder und meine Schwägerin verlassen beinahe fluchtartig den Raum und schließen die Tür hinter sich, wobei ich wetten könnte, sie bleiben dahinter stehen und lauschen. Etwas unbeholfen stehen wir voreinander.
Er deutet aufs Sofa. „Setzen wir uns?“
„Klar.“
Wir lassen uns nieder.
„Äh, hören Sie“, sage ich, „tut mir leid, dass ich gerade etwas ... seltsam reagiert habe. Ich hatte wohl so eine Art Peter Zwegat erwartet“, kichere ich.
„Die Sendung hat wenig mit der Realität zu tun“, erwidert er, ohne auch nur zu lächeln.
Wieder komme ich mir albern vor und stelle mein Giggeln ein. „Verstehe.“
„In Ordnung. Ihr Bruder hat mir schon ein wenig über Ihre Situation erzählt, aber es wäre gut, wenn Sie mir noch einmal selbst schildern könnten, worum es geht.“
Du meine Güte, der legt ja ein Tempo vor. Müssen wir gleich zum Punkt kommen? Ich hatte gehofft, wir könnten zuerst ein wenig Smalltalk betreiben.
Ich schlucke. „Sicher. Ich habe mein Konto überzogen, meine Kreditkarten wurden gesperrt, und zuhause habe ich ein paar Dutzend unbezahlter Rechnungen herumliegen.“
Einen Augenblick lang sieht er mich abwartend an.
„Im Grunde war's das auch schon“, füge ich hinzu.
Er räuspert sich, dann greift er zu seiner Aktentasche und holt einen Notizblock und einen Kugelschreiber hervor. „Könnten Sie ein wenig konkreter werden? Wie hoch sind Ihre Schulden genau?“
Himmel, geht der ran. Hat er kein Taktgefühl? Die unangenehmsten Fragen gleich zu Beginn stellen, das ist nicht gerade die feine englische Art, Mr. Schuldnerberater. Hätten wir uns nicht erst ein bisschen kennenlernen können?
„Die Sache ist die: So genau weiß ich es nicht.“
„Sie wissen es nicht?“, fragt er stirnrunzelnd.
„Na ja ... schätzungsweise belaufen sie sich auf rund achttausend Euro. Plus, minus fünfhundert.“
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