Sogar Simon bemerkt mein Stimmungshoch am Montag und will wissen, ob ich am Wochenende Designerschuhe im Ein-Euro-Laden erstanden hätte.
„Viel besser“, antworte ich geheimnisvoll und lasse ihn über den wahren Grund im Unklaren.
Wieder zuhause läute ich Sturm bei Herrn Schlüter, bevor er mich abfangen kann. Wenigstens einmal will ich ihm zuvorkommen.
„Entschuldigen Sie die Störung“, lächele ich ihn breit an, nachdem er mir mit mürrischem Gesicht die Tür geöffnet hat. „Ich wollte Ihnen nur schnell die Miete vorbeibringen“, flöte ich weiter und drücke ihm den Umschlag mit dem Geldbündel in die Hand.
Misstrauisch runzelt er die Stirn und wirft einen Blick in das Kuvert. Zugegeben, es hat schon was, sein verdattertes Gesicht zu sehen, als er die Scheine sieht und feststellt, dass kein einziger Cent fehlt.
„Das war's auch schon“, sage ich dann eilig, bevor er sich noch etwas anderes einfallen lassen kann, das er mir vorhalten kann, und flitze die Treppen hinauf.
„Das war aber das letzte Mal, dass ich so lange Geduld hatte“, ruft er mir hinterher.
Klar. Er muss einfach das letzte Wort haben.
Zurück oben bei mir läutet wieder einmal das Telefon. Aus Angst, die Nervensäge von der Sparkasse könne einen erneuten Versuch starten, mich zu einem Gespräch zu nötigen, nähere ich mich dem Hörer wie einem wilden Tier, um erst einmal einen vorsichtigen Blick auf die angezeigte Nummer zu werfen. Zum Glück ist es nur Tim.
„Und, wie sieht's aus?“, fragt er. „Hast du die Miete bezahlt?“
„Nein, ich habe mir von den fünfhundert Euro eine Louis-Vuitton-Tasche gekauft.“
„ Was ?“
Ich stöhne auf. „Das war ein Witz . Natürlich habe ich sie bezahlt! Was denkst du denn von mir?“
„Na ja, so abwegig wäre das jetzt nicht gewesen ...“
„Tim!“
Er lacht. „Nichts für ungut. Ich wollte nur sichergehen.“
„Deshalb hast du angerufen? Um zu kontrollieren, ob ich dein Geld nicht verprasst habe?“, frage ich leicht gekränkt.
„Blödsinn. Ich habe eine gute Nachricht für dich. Hast du schon mit der Sparkasse gesprochen?“
„Tja ... also ...“
„Also nein“, kontert er folgerichtig.
„Weißt du, ich werde mir sehr genau überlegen müssen, was ich denen sagen werde.“
„Und?“
„Daran arbeite ich noch.“
„Verstehe“, sagt er mit einem Grinsen in der Stimme. „Ich kann dich beruhigen, du musst vielleicht gar nicht mit ihnen reden. Jedenfalls nicht allein.“
„Du willst mitkommen?“, frage ich aufgeregt.
Mein Bruder ist ein Schatz! Ich wusste, ich kann mich auf ihn verlassen.
„Nein, nicht ich.“
Meine Begeisterung verfliegt augenblicklich. „Sondern?“
„Pass auf, ich habe gestern noch mal nachgedacht, und da ist mir was eingefallen, worauf ich vorher nicht gekommen bin. Ich weiß jetzt, wer dir helfen kann.“
„Und wer soll das sein?“
Vielleicht hat er ein Spendenkonto für mich eingerichtet und im Internet einen Aufruf gestartet. Mia braucht dich! Mit jedem Cent kannst du helfen! Hey, eine coole Idee. Vielleicht sollte ich das selbst in Angriff nehmen.
„Ein Bekannter von mir. Ich kenne ihn aus Unizeiten. Früher war er mein Tutor. Rate mal, was er jetzt beruflich macht.“
Offen gesagt, ist es mir ziemlich egal. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was irgendein oller Professor, der mal Tutor meines Bruders war – was auch immer das sein soll –, für einen tollen Job haben soll, der mir irgendetwas nützen könnte.
„Keine Ahnung. Sag's einfach.“
„Er ist Schuldnerberater!“, platzt er triumphierend hervor.
Der Funken Hoffnung auf baldige Rettung in mir erlischt. Ein Schuldnerberater! Was soll ich denn damit? Kann der etwa Geld herzaubern? Wohl eher nicht.
„Und?“, leiere ich. „Will er mir das Geld geben?“
„Natürlich nicht! Er kann dir sagen, wie du deine Schulden loswirst. Dazu sind Leute wie er da, weißt du“, erklärt er spöttisch.
„Tim, ich brauche niemanden, der mir Finanztipps gibt, ich brauche Geld! Und zwar am besten schon gestern.“
Anscheinend hat er überhaupt nicht begriffen, worum es geht. Schuldnerberater, also echt. Wir sind doch hier nicht bei RTL!
„Das ist mir klar“, lenkt er nun etwas verständnisvoller ein. „Nur wirst du nicht an das Geld kommen, bevor du deine Miesen nicht reduziert hast. Er kann dir erklären, wie das funktioniert. Und er verhandelt mit Gläubigern. Das heißt, er könnte bei der Sparkasse ein gutes Wort für dich einlegen.“ Beim Stichwort Sparkasse werde ich wieder hellhörig.
„Das willst du doch, oder?“, hakt er nach.
„Nichts mehr als das!“
„Na also. Und hier kommt die zweite gute Nachricht: Ich habe schon mit ihm gesprochen und ihm ein bisschen von deinem Problem erzählt.“
Wie bitte?
„Hinter meinem Rücken?! Ohne es mit mir abzusprechen?“
Ich glaube, ich spinne!
„Krieg dich wieder ein. Ich spreche es jetzt mit dir ab.“
„Aber ...“
„Das ist sein Job. Er hört den ganzen Tag nichts anderes. Außerdem habe ich keine Einzelheiten erwähnt.“
„Toll“, grummele ich. „Und weiter?“
„Er würde sich mal mit dir unterhalten, wenn du einverstanden bist.“
„Nein, bin ich nicht.“
„Mia! Du solltest das Angebot wirklich annehmen. Er kennt sich aus damit. Abgesehen davon könntest du mir ruhig ein bisschen dankbar sein. Ich habe meine Kontakte für dich spielen lassen. Normalerweise ist er komplett ausgebucht. Du hast keine Ahnung, was die bei der Schuldnerberatungsstelle für lange Wartelisten haben. Er würde extra für dich eine Ausnahme machen und sich außerhalb seiner Arbeitszeiten mit dir treffen, weil ich ihm gesagt habe, wie viel mir daran liegt, dir zu helfen. Also bitte! Rede mit ihm.“
„Ich weiß nicht.“
„Mir zuliebe!“
Mann, das ist nicht fair. Das ist emotionale Erpressung!
Meine inneren Widerstände fangen an zu bröckeln. Tim hat diesen Kerl nur für mich kontaktiert. Bin ich es ihm nicht schuldig, ihm den Gefallen zu tun, mich beraten zu lassen?
„Was soll der ganze Spaß denn kosten?“, brumme ich.
Aus purer Nächstenliebe hilft einem heutzutage schließlich niemand mehr, und das Geld dafür habe ich genauso wenig wie für alles andere.
„Selbstverständlich gar nichts“, lacht Tim. „Es wäre ein bisschen absurd, für eine Schuldnerberatung Geld zu verlangen, oder?“
„Wovon lebt der Mann dann? Von Luft und Liebe?“
„Er wird von der Beratungsstelle bezahlt, in der er arbeitet. Aber das ist doch auch völlig egal. Also was ist, machst du es?“
Solange es mich nichts kostet, habe ich eigentlich nichts zu verlieren. Ich könnte mir zumindest mal anhören, ob er brauchbare Tipps auf Lager hat.
„Meinetwegen“, gebe ich nach.
„Super! Glaub mir, das wird dir echt was bringen.“
„Hoffen wir es“, seufze ich. „Dann gib mir mal seine Nummer, ich ruf ihn an. Wie heißt der Typ?“
„Die brauchst du nicht“, sagt er. „Ich hab schon alles geregelt. Du triffst ihn morgen Abend um sieben. Hier bei uns.“
Das wird ja immer besser.
„Warum bei euch zuhause?“
„Damit du nicht auf die Idee kommst, einfach nicht hinzugehen.“
„Das würde ich nie tun!“, behaupte ich.
„Nein, natürlich nicht“, höhnt er.
„Okay, wie du willst. Ich komme.“
„Gut. Siehst du, ich hab immer gewusst, du würdest eines Tages vernünftig werden“, scherzt er.
Aber als ich auflege, habe ich das ungute Gefühl, dass ich in meinem Leben schon vernünftigere Entscheidungen getroffen habe, als einen Schuldnerberater zu konsultieren.
*
Natürlich komme ich zu spät. Dabei wollte ich gerade das unbedingt vermeiden. Der erste Eindruck zählt schließlich, und zum ersten Gespräch nicht pünktlich zu erscheinen kommt bei dem Beratungsheini bestimmt nicht gut an. Schuld daran ist wie üblich die berüchtigte Kleiderfrage. Bei dem Versuch, ein passendes Outfit zu finden, das seriös, aber nicht overdressed wirkt, ist die Zeit nur so verflogen. Plötzlich war es zehn vor sieben, und ich stand noch immer bloß in Unterwäsche vor dem Spiegel. Kurzerhand bin ich in eine schwarze Jeans, eine hellblaue Bluse und beige Ballerinas geschlüpft, und nun fahre ich seit zehn Minuten vor Tims Haus auf und ab und finde keinen Parkplatz. Die Uhr zeigt zwanzig nach sieben. Falls Tims Ex-Tutor nicht eine Engelsgeduld besitzt, dürfte ich bereits jetzt unten durch bei ihm sein. Das nenne ich gute Voraussetzungen.
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