„Geht's dir gut?“, erkundige ich mich bei ihr, was sie mir mit einem eifrigen Nicken beantwortet.
Inzwischen ist Carolin mit Alinas Rock wedelnd am unteren Treppenabsatz angekommen und bemerkt mich nun auch.
„Was machst du denn hier?“, bekomme ich zum zweiten Mal an diesem Morgen zu hören. „Ist was passiert?“
„Da will man seinen Lieben einen netten Besuch abstatten, und alle befürchten gleich das Schlimmste.“
„Ein Besuch um diese Uhrzeit ist ja auch etwas ungewöhnlich“, wendet sie ein.
„Was habt ihr nur alle mit der Uhrzeit? Also ich bin ausgeschlafen. Ihr etwa nicht?“, grinse ich in die Runde.
„Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie sich ausgeschlafen anfühlt“, sagt Carolin trocken.
„Seht ihr, da könnt ihr doch gut ein Frühstück gebrauchen. Oder was meinst du?“, wende ich mich an Alina.
„Hm-hm“, nickt sie wieder.
„Schön.“ Ich setze die Kleine auf dem Boden ab. „Dann mal los.“
Sie flitzt voraus in die Küche, und ich folge ihr, wobei ich gerade noch aus den Augenwinkeln erkennen kann, dass Tim Carolins fragenden Blick mit einem ratlosen Schulterzucken beantwortet. Natürlich haben sie recht. Es ist ungewöhnlich, an einem Samstag um acht Uhr morgens irgendwo aufzukreuzen, selbst wenn es sich dabei um den engsten Kreis der Familie handelt. Aber ich habe es zuhause einfach nicht mehr ausgehalten, und das Frühstück ist der perfekte Vorwand, um die Katze aus dem Sack zu lassen.
In der Küche sitzt Alina bereits am leeren Tisch.
„Da hat wohl jemand Hunger“, lächele ich sie an.
„Jaaah. Und wie!“
Carolin und Tim kommen ebenfalls herein, und hat Nick sein Geplärr zum Glück auf ein halbwegs erträgliches Quäken reduziert. Gemeinsam decken wir den Tisch und kochen Kaffee, sodass wir kurz darauf alle zusammensitzen und uns die Brötchen schmecken lassen können.
„Jetzt mal im Ernst“, sagt Tim nach dem ersten Bissen. „Warum bist du hier? Nur um mit uns zu frühstücken?“
Betont lässig zucke ich die Achseln. „Ich konnte nicht mehr schlafen, und da dachte ich mir: 'Hey, wieso besorgst du nicht was zu essen und schaust bei Tim und Caro vorbei, die sind bestimmt auch schon wach.' Ich war lange nicht mehr hier.“
Carolin schaut mich skeptisch an. „Du warst erst vor zwei Wochen hier. Zum Abendessen.“
Mist! Stimmt.
„Seht ihr! Viel zu lang. Die Kinder wachsen so schnell – da will ich nichts verpassen!“
„Mia.“ Tim sieht mich seinem Mach-deinem-großen-Bruder-nichts-vor-Blick an. „Was ist los?“
„Gar nichts!“, beteuere ich. „Echt mal, was denkt ihr denn?“
„Du würdest niemals deinen freien Samstag opfern, nur für ein Frühstück mit uns“, stellt er fest. „Also?“
Seufzend lasse ich meine bisher unangerührte Brötchenhälfte auf den Teller sinken. Das ist der Nachteil bei einem Bruder, der einen ein bisschen zu gut kennt. Ich fühle mich wieder wie mit fünfzehn. Seinerzeit entlockte Tim mir mit einer hinterhältigen Verhörtaktik das Geständnis, dass ich heimlich gekifft hatte. Gut, sage ich es ihnen eben. Schließlich bin ich genau deswegen hergekommen, nicht wahr? Dann kann ich es auch gleich hinter mich bringen.
„Okay. Es ist, weil ... äh ... ich wollte ... euch fragen ...“
Tim und Carolin sehen mich abwartend an, und auch Alina schaut neugierig in meine Richtung. Sogar Nick in seinem Babystuhl hängt an meinen Lippen und nuckelt dabei an seinem Beißring. Und da verlässt mich der Mut. Plötzlich erscheint es mir geradezu obszön, vor unschuldigen Kindern mein Geldproblem auszubreiten. Das gehört wirklich nicht an den Frühstückstisch. Außerdem ist es strategisch ganz ungünstig, solche Themen vor der ersten Tasse Kaffee anzuschneiden. Das versaut doch total die Stimmung!
„... ähm ... ob wir nicht mal wieder was zusammen unternehmen sollen“, platze ich heraus.
Tja, damit haben sie nicht gerechnet. Tim wirkt enttäuscht. Er hatte wohl eine echte Sensation erwartet.
„Was denn unternehmen?“, fragt er beinahe gelangweilt.
„Irgendwas eben. Früher sind wir ständig zu dritt ausgegangen“, erinnere ich ihn.
„Früher hatten wir auch noch keine Kinder“, murmelt Carolin.
„Und mit Kindern ist das Leben nicht gleich zu Ende.“ Hoffe ich zumindest. „Werdet bloß nicht eins von diesen schrecklichen Spießerehepaaren, die nur noch aus dem Haus gehen, um ihre Blagen zum Ballettunterricht oder in den Sportverein zu kutschieren!“, ermahne ich sie spaßhaft.
„Natürlich nicht. Es ist trotzdem nicht mehr so einfach, spontan abends wegzugehen“, äußert auch Tim seine Bedenken.
„Muss ja nicht spontan sein. Wir können es jetzt planen.“
„Und was schwebte dir da so vor?“ Er klingt nicht sehr euphorisch. Wahrscheinlich ist ihm ein Abend mit der Sportschau wirklich schon lieber geworden als eine durchfeierte Nacht. Dem muss ich dringend entgegenwirken. Sonst mutieren die beiden ganz zu Couchpotatos.
„Wir könnten zum Beispiel mal den neuen Club testen. Zweitausendzwölf heißt der. Wir haben letztens im Sender darüber berichtet. Der soll echt gut sein.“
Carolin lacht auf. „Und vor allem echt teuer. Der Club gehört zum Falkenstein . Das heißt, unter fünfzig Euro Mindestverzehr kommt man da nicht rein.“
Tatsächlich grenzt die neue Nobeldiskothek an das Falkenstein – ein Fünf-Sterne-Hotel, das einer stinkreichen Unternehmerfamilie gehört, die hier in Altenkirchen und Umgebung in Besitz zahlreicher Restaurants und Bars ist. Die sind allerdings nicht halb so protzig und für jedermann bezahlbar.
„Ach, das glaube ich nicht“, widerspreche ich. „Sie würden nicht so viel Werbung dafür machen, wenn sich den Eintritt nicht jeder leisten könnte.“
„Ich weiß nicht. Wahrscheinlich kommen wir nicht mal rein. Es sei denn, sie haben gerade Ü-30-Party“, mosert Tim.
Mensch, was ist denn mit denen los? Früher haben sie keine Gelegenheit ausgelassen, ganze Nächte durchzumachen. Und kaum haben sie ein sabberndes Baby und ein nach Aufmerksamkeit lechzendes Kleinkind in die Welt gesetzt, besteht ihre Abendunterhaltung darin, Windeln zu wechseln und Pu der Bär vorzulesen. Mich schüttelt es beim Gedanken daran.
„Jetzt tut nicht so, als stündet ihr kurz vor der Rente. Ihr seid Eltern, keine Greise! Außerdem braucht ihr ab und zu mal Kontakt zu Menschen, mit denen ihr euch nicht nur über die bekömmlichste Sorte Babybrei unterhalten könnt“, lästere ich.
„Du hast ja recht“, seufzt Carolin wehmütig. „Wir waren ewig nicht mehr richtig feiern. Lust hätte ich schon.“
„Na also“, freue ich mich. „Wann steigt die Party?“
„Was für eine Party? Zum Geburtstag?“, erkundigt sich Alina mitten in unserer Diskussion, und wir müssen alle lachen.
Die Frage, ob unsere Clubbingnacht denn nun überhaupt stattfinden soll und wenn ja, wann und wer dann auf die Kinder aufpasst, bleibt erst einmal Gesprächsthema, bis Nick erneut zu quengeln anfängt. Grund dafür sind diesmal nicht seine durchbrechenden Zähnchen, sondern der eindeutige Geruch, der sich von seiner Richtung aus über den Frühstückstisch ausbreitet. Hätte ich meinen Appetit nicht schon mit den Brötchen gestillt, wäre er mir spätestens jetzt vergangen.
„Bäh, Nick!“, beschwert sich Alina und hält sich demonstrativ die Nase zu. Ich kann mich gerade noch davon abhalten, es ihr gleichzutun.
Carolin hingegen lacht nur und hebt ihren Sohn aus seinem Stuhl. „Wir zwei kümmern uns mal um eine frische Windel, was?“, lächelt sie ihn an. „Komm mit, Alina. Du bist immer noch nicht fertig angezogen.“
Zu meiner Überraschung folgt die Kleine ihr widerspruchslos. Anscheinend sind die Erziehungsmethoden im Hause Herrlich wirksamer, als ich bisher dachte. Die beiden machen sich auf den Weg nach oben und lassen mich mit Tim allein zurück. Ein ungewohntes Schweigen breitet sich zwischen uns aus. Die ideale Gelegenheit, endlich mein Anliegen vorzubringen. Nur wie? Einfach frei von der Leber weg? So in der Art: „Hey, lass mal 'n bisschen Kohle rüberwachsen!“? Kommt vielleicht nicht ganz so gut an. Angespannt lächele ich zu Tim herüber, der mich aufmerksam mustert. Ahnt er etwa was?
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