Nachdem ich eine winzige Lücke in meiner vollkommen zugeparkten Straße gefunden habe und zum ersten Mal seit ewigen Zeiten mit leeren Händen aus dem Wagen gestiegen bin, werfe ich die Autotür mit aller Kraft zu, sodass das ganze Fahrzeug durch die Erschütterung bebt. Nicht nur, weil ich stinksauer auf die Heinis von der Bank bin, die sich das Recht herausnehmen, mich um ein extrem figurbetonendes Sommerkleid plus aufreizender Spitzenunterwäsche zu bringen, sondern auch, weil es mittlerweile nicht mehr möglich ist, die Tür anders zu schließen als mit roher Gewalt. Das Schloss ist verzogen, und mit sanftem Zudrücken ist es da nicht getan. Über die Anschaffung eines Neuwagens sollte ich mir auch noch einmal konkrete Gedanken machen. Zu einem umweltfreundlicheren und spritsparenderen Modell habe ich bisher nur deshalb nicht gewechselt, weil ich mein Geld am Ende doch lieber für Dinge ausgebe, die ich nötiger habe. Fragt sich nur, ob die Klapperkiste nicht ihren Geist aufgibt, bevor ich einen Neuwagen zu einer nötigen Investition zähle. Sobald ich wieder flüssig bin, werde ich mich beim Autohändler etwas genauer umsehen, nehme ich mir vor, nachdem es mir gelungen ist, die Karre abzuschließen und ich zum Hauseingang stöckele.
Meine Wohnung liegt im Dachgeschoss einer hübschen Altbauvilla. Früher hat sie irgendeiner reichen Adelsfamilie gehört, später wurde sie in ein gewöhnliches Fünf-Parteien-Haus umgewandelt, von denen eine dummerweise der Hauseigentümer und mein Vermieter selbst ist. Herr Schlüter ist einer von der ganz fiesen Sorte. Augenscheinlich ein freundlicher, alter Herr, der seinen Ruhestand genießt. In Wirklichkeit ein gemeiner, kleiner Giftzwerg; zumindest, wenn man sich nicht an seine Vorstellungen von einer harmonischen Hausgemeinschaft hält. Insgeheim hege ich den Verdacht, dass Herr Schlüter früher bei der Stasi gearbeitet hat. Es ist nämlich nahezu unmöglich, irgendetwas zu tun, das ihm verborgen bleibt. Ich bin der festen Überzeugung, er tut den lieben langen Tag nichts anderes, als hinter seinem Guckloch in der Wohnungstür oder dem Küchenfenster zu lauern, um haarklein Buch darüber zu führen, wann einer seiner Mieter das Haus verlässt, das Unkraut auf dem Weg jätet oder den Müll entsorgt. Und wehe dem, der sich nicht an den Putzplan hält, der in mehrfacher Ausführung und mit verschiedenfarbigen Markierungen im Hausflur prangt! Mit Herrn Schlüter ist nicht zu spaßen. Man muss aufpassen wie ein Luchs, möchte man im Hausflur nicht von ihm abgefangen werden und sich eine Predigt darüber anhören, was man seiner Meinung nach diesmal verbrochen hat. Letzte Woche hatte ich die Kellertür versehentlich nicht ordnungsgemäß abgeschlossen, nachdem ich die muffige Baracke verlassen hatte. Das war vielleicht ein Theater ...
Im Laufe der Jahre habe ich eine Taktik entwickelt, mit der ich es in acht von zehn Fällen schaffe, unbemerkt in die oberste Etage zu gelangen. Sie besteht darin, die Haustüre so leise wie möglich aufzuschließen, geduckt an seiner Wohnung, die natürlich ausgerechnet im Erdgeschoss liegt, vorbeizuhuschen, um dem Sichtfeld seines Türspions zu entgehen, und dann auf Zehenspitzen die Treppen hinaufzuschleichen. Sie erfordert einige Übung und eine gewisse Risikofreudigkeit (schließlich kann man trotz alledem erwischt werden), dafür lohnt es sich. Jede schlüterfreie Minute ist den Aufwand wert. Vor allem heute kann ich meinen beobachtungswütigen Nachbarn überhaupt nicht gebrauchen, weshalb ich besonders vorsichtig den Schlüssel herumdrehe und die Haustür mit entsprechendem Fingerspitzengefühl verschließe. Gerade will ich in die Hockstellung gehen, damit ich an seiner Tür vorbeikomme, da wird diese vor meiner Nase aufgerissen, und Herr Schlüter baut sich wie üblich wutschnaubend vor mir auf. Da mein Plan A gescheitert ist, gehe ich auf der Stelle zu Plan B über: die Nicht-zu-Wort-kommen-lassen-Strategie.
„Guten Tag, Herr Schlüter!“, flöte ich mit einem strahlenden Lächeln und täusche beste Laune vor. „Wie geht es Ihnen? Ist das heute nicht ein fantastisches Wetter. Viel zu schade, um zuhause zu sitzen, finden Sie nicht? Ich bin auch nur auf einen Sprung hier, dann muss ich gleich wieder los. Also dann, einen wunderschönen Tag wünsche ich Ihnen, Herr Schlüter.“
Mit jedem Satz habe ich mich ein Stückchen weiter dem Treppenansatz genähert und erklimme nun die ersten Stufen. Vielleicht habe ich Glück und –
„Nicht so eilig, Frau Herrlich!“
Verflucht!
Widerwillig drehe ich mich wieder um. Dabei hatte ich schon fast die erste Etage erreicht. „Es tut mir schrecklich leid, Herr Schlüter. Ich habe wirklich nicht viel Zeit.“
„Ich würde Ihnen auch dringend raten, sich zu beeilen“, sagt er finsteren Blickes. „Und zwar damit, mir die Miete zu zahlen!“
Oh nein! Das auch noch! Habe ich tatsächlich schon wieder vergessen ... Nein, ich habe ganz sicher ... Oder war das letzten Monat?
„Sie brauchen gar nicht so zu gucken! Ich warte jetzt seit über einer Woche auf das Geld. Was glauben Sie eigentlich, was ich hier betreibe? Ein Wohnheim für Bedürftige?!“
„Aber ich habe Ihnen die Miete überwiesen“, beteuere ich.
Im Zweifelsfall immer leugnen. Dann steht Aussage gegen Aussage. Außerdem könnte ich schwören, dass ich –
„Wann soll das bitte gewesen sein?“, unterbricht er meine Grübelei. „Die Miete hat pünktlich zum ersten des Monats auf meinem Konto zu sein!“
Was das betrifft, ist Herr Schlüter besonders empfindlich. Nur ein einziger Tag im Mietrückstand kann bei ihm einen mittelschweren Tobsuchtsanfall auslösen. Habe ich alles schon erlebt. Mit der Miete stehe ich auf Kriegsfuß. Solche lästigen Verpflichtungen gehören nun einmal zu den wenigen Dingen, für die ich nicht gerne Geld ausgebe. Deshalb vergesse ich die Zahlung ab und an gerne mal. Diesen Monat ist es mir anscheinend wieder passiert. Ausgerechnet jetzt. Wo auf meinem Konto sowieso Ebbe herrscht.
„Natürlich. Deswegen habe ich die Überweisung auch schon am dreißigsten getätigt“, schwindele ich weiter, um Zeit zu gewinnen.
Zeit, in der mir eine plausible Erklärung einfallen sollte, weshalb er meinen Mietanteil bisher schmerzlich auf seinem Konto vermisst.
„Ach, erzählen Sie mir nichts!“, ereifert er sich. „Was soll das denn für eine Bank sein, die acht Tage braucht, um eine Überweisung auszuführen?“
Danke, Herr Schlüter! Das war das Stichwort, das ich brauchte.
„Ja, das frage ich mich allerdings auch!“, erwidere ich empört. „Da vertraut man denen sein gesamtes Vermögen an, und dann sind die nicht einmal in der Lage, eine simple Überweisung zu tätigen. Da sollte man sich gut überlegen, ob man sein Geld nicht wieder zuhause im Sparstrumpf aufbewahrt! Denen kann man doch nicht mehr über den Weg trauen. Heutzutage kann man sich wirklich auf niemanden mehr verlassen!“
Natürlich lüge ich wie gedruckt. In Notsituationen kann ich das sogar, ohne rot zu werden. Anderenfalls würde mir Herr Schlüter diese haarsträubende Geschichte mit Sicherheit nicht abkaufen. Wer hat schon je von einer Bank gehört, die Überweisungen verschludert? Andererseits – in Zeiten von Lehman Brothers, der Weltwirtschaftskrise und in denen Steuergelder für notleidende Banken verpulvert werden, ist selbst das nicht allzu abwegig. Wie auch immer, mein Vermieter hat den Köder fast geschluckt.
„Normalerweise kann so etwas nicht passieren“, wendet er, zwar misstrauisch, aber durchaus besänftigt, ein.
Jetzt schnell nachlegen.
„Nein, so was darf nicht passieren. Ich werde mich sofort nach dem Wochenende beschweren und dafür sorgen, dass Sie Ihr Geld so schnell wie möglich bekommen.“
„Das will ich hoffen“, grummelt er. „Am Montag ist das Geld da. Haben wir uns verstanden?“
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