Die Tür wurde zaghaft geöffnet. Julia riet: Ellen? Pit? Liebscher? Ellen und Pit schieden aus. Sie kamen anders. Sie waren schon öfter zu Besuch gewesen. Liebscher?
Es klopfte an Julias angelehnte Zimmertür. »Ja«, sagte Julia gespannt.
»Die Neue ...!«, rief Julia überrascht.
»Guten Tag, Julia!« Frau Rosen lächelte. »Ja, die Neue«, sagte sie. »Wie geht es dir denn, Julia?«
»Danke«, sagte Julia. »Es geht so.«
Beide schwiegen. Julia wusste nicht, was sie sagen sollte.
Frau Rosen hätte sich gern gesetzt. Ihr war es nicht leichtgefallen, hierher zu kommen. Sie hatte gewusst, wie sie empfangen werden würde. Am meisten hatte sie sich vor dieser abweisenden Kälte gefürchtet, die sie auch heute wieder in der Klasse zu spüren bekommen hatte. Aber die Sorge um dieses Mädchen, das in ihrer ersten Unterrichtsstunde ohnmächtig wurde, hatte sie hergetrieben.
Sie fragte: »Habe ich gestern etwas falsch gemacht? Habe ich dir wehgetan mit irgendetwas?«
Julia schwieg. Jürgen Herrmann spielte jetzt schnell die Tonleiter herauf und herunter. Die Töne überschlugen sich.
Was für Fragen sie stellt, dachte Julia. Misstrauisch fragte sie: »Warum kommen Sie überhaupt?«
»Darf ich mich setzen?« Frau Rosen zeigte auf Julias Bett.
Julia nahm das Essen, die Blumen und die Schokolade vom Stuhl.
Frau Rosen setzte sich. Sie sah sich im Zimmer um. Ihr Blick blieb auf einem Bild über Julias Bett. Es war eine Reproduktion von Josef Hegenbarth: In der Manege. Ein Clown war darauf zu sehen, ein steigendes Pferd und über der Manege eine Frau am Trapez.
»Liebst du den Zirkus?«, fragte sie. »Wir könnten mit der Klasse hingehen. Es ist jetzt einer in der Stadt. Würdest du wollen?«
»Ich gehe heute mit meinen Eltern in den Zirkus«, antwortete Julia. Und dann wiederholte sie ihre Frage: »Warum sind Sie gekommen?«
Frau Rosen drückte den Verschluss ihrer Tasche auf und zu, immer wieder. Sie lächelte, als sie den Plüschbären unter der Bettdecke hervorlugen sah. »Ich wollte nur mal nach dir sehen«, sagte sie. »Brauchst du etwas? Hast du einen Wunsch?«
Julia schüttelte den Kopf. Beide schwiegen wieder. Dann stand die Lehrerin auf. Sie gab Julia die Hand und sagte: »Also auf Wiedersehen. Und gute Besserung!«
»Danke.«
Julia fiel auf, dass Frau Rosen wie Herr Rohnke manchmal ein »Also« ihren Worten voranstellte. Aber dieses »Also« passte nicht zu ihr. Es gehörte zu Herrn Rohnke.
Frau Rosen ging bis zur Wohnungstür. Dort kehrte sie um und betrat noch einmal das Zimmer.
Sie sagte schnell, als müsste sie ihre Frage endlich loswerden: »Sag mal, was habt ihr gegen mich - du und die anderen? Ach«, sagte sie hastig, »vergiss es - das war eine dumme Frage. Überlege dir das noch einmal mit dem Zirkusbesuch der Klasse! Bitte.«
Die Wohnungstür klappte ins Schloss.
Julia ließ sich in die Kissen fallen. Der Besuch hatte sie angestrengt. Sie hatte wieder Kopfschmerzen. Sie zwang sich, etwas zu essen und zu trinken. Auch von der Schokolade aß sie. Die Eltern sollten sehen, dass es ihr besser ging.
Julia stand auf und duschte. Das warme Wasser tat ihr gut. Sie war froh, dass sie aus dem Bett heraus war. Was sie brauchte, war Bewegung.
Und jetzt durfte sie erst recht nicht schlappmachen. Jetzt, wo es darum ging, Herrn Rohnke für die 8b zurückzugewinnen.
Ihr war vieles unklar. Warum hatte Frau Rosen sie zu Hause besucht? Interessierte es sie wirklich, ob es ihr gut oder schlecht ging? Dann diese Frage: Was habt ihr gegen mich?
Julia zog sich an. Sie suchte sich warme Sachen heraus. Sie wollte auf keinen Fall krank werden. Die Rosen sollte schon noch erfahren, was die 8b gegen sie hatte. »Ich hätte ihr antworten können«, sagte Julia laut und ließ sich wieder auf ein Selbstgespräch ein.
»Na, was hättest du ihr gesagt?«
»Ich hätte ihr gesagt ... «
»Was hättest du ihr gesagt?«
»Ich hätte ihr gesagt: Sie passen nicht in unsere Klasse!«
»Warum nicht?«
Du kannst einen aber auch nerven, dachte Julia über sich. Sie rief laut: »Weil eben Herr Rohnke in unsere Klasse passt und niemand anderes!«
Ihr war dieses Frage-und-Antwort-Spiel zu dumm. Was sie jetzt brauchte, war ein ruhiger und klarer Kopf.
Julia versuchte sich abzulenken. Sie drehte im Sessel ein paar Runden. Aber davon wurde ihr schwindlig. Sie las in dem Buch, das Vater aufgeschlagen auf dem Couchtisch hatte liegenlassen. Es hieß »Der Wundertäter«.
Julia las von der Geburt des Armebauernjungen Stanislaus und von seinen ersten Wundertätereien. Sie fand das Buch aufregend und lustig, und sie verstand nicht, warum Vater immer sagte, wenn sie manchmal nach einem seiner Bücher griff: »Das ist noch nichts für dich. Später, Julia.«
Dieser Stanislaus Büdner - von dem wollte sie mehr erfahren. Sie würde das Buch zu Ende lesen.
Julia zog sich den Anorak über und ging aus der Wohnung. Auf der Treppe begegnete ihr Frau Saube. Julia grüßte und ging schnell vorbei. Sie hatte ihre eigenen Sorgen.
Julia lief zur Kreuzung. Sie brauchte jetzt den Lärm und viele Menschen um sich. Sie lehnte gern auf dem Geländer, sah die Straßenbahn und Autos an der Kreuzung halten und wieder anfahren. Menschen überquerten die Straße, gingen oder kamen aus den Läden, lachend, schimpfend, müde, eilig. Alles um sie herum war in Bewegung. Nichts, was stillstand. So liebte Julia das Leben. Diese Atmosphäre an der Kreuzung war ihr wie Musik. Wenn sie manchmal müde war von der Schule, dann holte sie sich hier neue Kraft.
Julia fiel dieser Stanislaus Büdner aus dem Buch ein. So einen konnten sie jetzt in der Klasse gebrauchen. Einen Wundertäter. Einen, der es fertigbrachte, Herrn Rohnke zurückzuholen. Dieser Stanislaus war ein schlauer Bursche. Der hat's dick hinter den Ohren, würde Großvater sagen.
Julia achtete auf die Straßenbahnen. Sie brauchte nur zwanzig Minuten zu warten, dann sah sie ihre Mutter in der Fahrerkabine der Linie »11«.
Julia stieg zu. Ihre Mutter rief überrascht: »Julia! Was suchst du denn hier?! Warum bist du nicht im Bett?«
»Die Ampel zeigt grün. Du kannst fahren«, sagte Julia ruhig. »Mir geht es wunderbar. Das kannst du mir glauben.«
Julias Mutter schüttelte den Kopf und fuhr los. »Bist du ein verrücktes Ding! Kann man dich überhaupt allein lassen?!«
»Kannst du.«
Die Mutter wollte weiter schimpfen. Julia unterbrach sie. »Mutsch, du weißt doch: Gespräche während der Fahrt sind für dich verboten.«
Julia fühlte sich jetzt wieder besser, ruhiger. Am liebsten wäre sie ihrer Mutter um den Hals gefallen. Aber so etwas tat sie immer seltener.
Auf dem Vorderperron der Straßenbahn war außer Julia und ihrer Mutter niemand.
Julia stand an die Fensterwand gelehnt. Sie beobachtete die Hände der Mutter, schmale, kleine Hände, die die Straßenbahn sicher durch die Stadt steuerten.
Julia summte vor sich hin. Die Mutter lenkte die Bahn über das Hauptbahnhofvorgelände. Die Menschen strömten in die Ost- und Westhalle des Hauptbahnhofes hinein. Andere kamen heraus, mit Koffern beladen. Am Taxistand warteten viele Leute. Auf den schmalen Straßenbahnsteigen drängten sich die Menschen. In den Bäumen vor dem Hotel schaukelten unzählige Stare.
Viele Leute stiegen zu. Die Mutter brauchte jetzt ihre ganze Kraft und Aufmerksamkeit, um die Bahn durch das Gewühl des Stadtzentrums zu steuern.
Ampeln, dachte Julia. Überall Ampeln. Autos stauten sich in langer Reihe vor ihnen. Julia schloss einen Moment die Augen. Sie stellte sich Frau Rosen als lebendige Ampel vor und die Jungen und Mädchen der 8b als Autos, die zu beiden Seiten der Kreuzung standen. Sie ließ die Ampel rotes und grünes Licht geben, völlig durcheinander. Die Autos rasten los, näherten sich der Kreuzungsmitte, kamen einander immer näher. Gleich mussten sie zusammenstoßen ... !
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