Gunter Preuß
Die Gewalt des Sommers
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Inhaltsverzeichnis
Titel Gunter Preuß Die Gewalt des Sommers Dieses ebook wurde erstellt bei
Manchmal … Manchmal … … war es, als schliche etwas Böses durchs Lager. Es hatte kein Gesicht, keine Gestalt und doch war es da. Es war zwischen ihnen, aber auch in ihnen. Etwas Bedrohliches breitete sich aus. Es sagte lautlos voraus, dass das, was ihr bisheriges Leben bestimmt hatte, zu Ende gehen würde. Gewiss hat es in der damaligen DDR andere Pionierferienlager gegeben, in denen es anders zuging. Und doch sieht der Autor sein Szenario der Wahrheit näher, als manchen Schauplatz der Wirklichkeit.
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Nachtrag
Anhang
Glossar
Impressum neobooks
… war es, als schliche etwas Böses durchs Lager. Es hatte kein Gesicht, keine Gestalt und doch war es da. Es war zwischen ihnen, aber auch in ihnen. Etwas Bedrohliches breitete sich aus. Es sagte lautlos voraus, dass das, was ihr bisheriges Leben bestimmt hatte, zu Ende gehen würde.
Gewiss hat es in der damaligen DDR andere Pionierferienlager gegeben, in denen es anders zuging. Und doch sieht der Autor sein Szenario der Wahrheit näher, als manchen Schauplatz der Wirklichkeit.
Die Zugfahrt von Leipzig zur Insel Rügen würde wohl niemals ein Ende finden. Eingekeilt zwischen Menschenleibern, umwoben von muffig-süßlichem Geruch toter Blumen, dachte der Junge, dass er dem Gefühl von Enge wohl nie entkommen würde. Soweit er sich zurückerinnerte, hatte es ihn bis auf wenige Augenblicke der Losgelöstheit immer begleitet.
In Berlin mussten die Reisenden den Zug verlassen. Uniformierte kontrollierten die Abteile. Erst nach einer halben Stunde durften sie wieder zusteigen. Die Jungen hatten Spaß am Gewühl und Gejohle. Die Alten schimpften und verschafften sich rempelnd ihren Sitzplatz. Ein paar Haltestellen später wurde die Diesellok aus inländischer Produktion gegen ein rumänisches Fabrikat getauscht. Gleich waren Spottnamen zu hören, wie „Ceausescus Rache“ und „Karpatenschreck“. Je weiter sie in Richtung Norden fuhren, umso langsamer kam der Zug voran. Obwohl als Schnellzug ausgeschrieben, hielt er inzwischen an jeder Kleinstadt. Ein rothaariger Student, der vor seiner Freundin fortwährend prahlte, wollte wissen, dass es auf der Strecke einen Unfall gegeben hatte. An einem Bahnübergang sei ein Lastwagen in den Waggon eines Güterzugs gerast. Der Schaffner spräche von Verletzten und Toten.
Die Zugfahrt erinnerte Boris an Berichte von Erwachsenen, die ihre Reise an die See in den Fünfziger- und Sechzigerjahren als höchst langwierig und umständlich beschrieben hatten. Er hatte auf eine Fahrt mit E-Lok und Doppelstockwagen in nicht so bedrängender Enge gehofft.
Wenn der Zug nach all den Aufenthalten wieder anruckte, wurde das jedes Mal mit großem Hallo begrüßt. Die Jungen und Mädchen, die mit Boris ins Ferienlager fuhren, waren ihm zu laut und aufgedreht. Ihre Gesichter glänzten fiebrig, es gab Gespött und Zänkerei, Witze wurden erzählt, deren Pointe in übermütigem Gelächter unterging. Die Abteile waren überfüllt, Kleinkinder lagen im Gepäcknetz, junge Leute machten sich einen Spaß, an den Haltestellen durch die Fenster zu- oder auszusteigen. In den Kurven ratterten und knirschten die Waggons. Manchmal warf es die Fahrgäste durcheinander oder schüttelte sie, als würde der Zug über Kopfsteinpflaster fahren. Dann bremste er wieder schrill, von einem Signal oder Haltepunkt aufgehalten. Die Lok surrte wie ein überdimensionales Insekt, die Luft, selbst Gegenstände vibrierten, der Diesel roch nach faulen Eiern. Aufbrüllend wie ein geschundenes Tier setzte sie sich endlich wieder in Bewegung.
In Stralsund mussten sie umsteigen. Diesmal zog die fabrikneuen Wagen, allgemein beklatscht, eine der gewaltigen Dampfloks, die weitgehend aus dem Verkehr genommen waren. Boris stand in dem mit Menschen und Gepäck verstopften Gang, hielt seinen Kopf aus dem heruntergezogenen Fenster und ließ sich vom Fahrtwind den rußigen Dampf, den die Lok kurz und heftig auspaffte, ins Gesicht blasen. Die Pfiffe, die der Koloss hin und wieder ausstieß, klangen dem Jungen lustlos in den Ohren. Er fühlte sich müde, ja alt, jedenfalls älter als die in den Abteilen lärmenden Jungen und Mädchen und ihnen nicht zugehörig. Er wünschte, krank zu sein und sich in seinem Bett verkriechen zu können. Wenn er die brennenden Augen schloss, beunruhigte ihn Annas Blick. Vor ein paar Tagen hatte die Großmutter ihn immer wieder angesehen und, wenn er aufschaute, weggeblickt. Obwohl er die Antworten fürchtete, hatte er Fragen gestellt. Über Nacht dann war ihm in wirren Träumen das Bild seiner Mutter verloren gegangen. Am Morgen hatte er es in seine Gedanken zurückzwingen wollen. Er hatte sich Fotos angesehen und sie zu zeichnen versucht. Aber die Mutter blieb hinter einer Schattenwand verborgen.
Zehn Stunden waren sie nun unterwegs und noch immer nahm die Fahrt kein Ende. Boris sehnte sich bereits jetzt in das Auendorf zurück. Lerchau lag eingebettet in der Tieflandbucht zwischen Leipzig und Halle. Dort war alles überschaubar, ob er sich nun in seinen Tagträumen als Vogel in die Lüfte schwang oder als Frosch an den Boden drückte und zum Himmel aufschaute. Ihm fehlte Brunos schwere Hand auf der Schulter, sein schaukelnder Gang und der ihm anhaftende Geruch nach Tabak und saurem Schweiß. Vor allem aber vermisste er Annas besorgten Blick, ihr Augenzwinkern, wenn sie sich ertappt fühlte und ein Lächeln über ihr gebräuntes Gesicht huschte. Die Großeltern gaben ihm das Gefühl, etwas wert zu sein, mehr als ihr selbst gebautes Haus, vielleicht sogar mehr als ihr eigenes Leben.
Der Junge sah die kommenden Wochen wie ein endlos weites Feld vor sich liegen. Er wusste nicht, wie er da hinüberkommen sollte.
Als sie auf der Insel den Zug verlassen konnten, waren sie steif und müde.
Dann endlich, nach langem Fußmarsch, den von Anna gepackten Rucksack geschultert, stand der Junge vor dem Meer. Sekundenlang war er wie geblendet. In diesem Augenblick schien sich alles, was eben noch in unzähligen Teilen durcheinanderwirbelte, vereinigt zu haben. Er ballte die Hände gegen dieses Sausen und Schwirren in ihm. Wieder im Gleichgewicht, riss er die Augen auf und trank gierig die Weite, das Grün und das Blau. Das alles hatte er so noch nie gesehen. Sein Blick reichte bis zum fernen Horizont. Nur ein in Grautönen fein überlagerter Strich, den wohl kein Mensch so zeichnen konnte, trennte Meer und Himmel voneinander.
Die Jungen, die selbst in den abseits gelegenen „Lehmlachen“ im heimatlichen Auenwald nie nackt badeten, rissen sich die Sachen vom Leib, rannten mit Geschrei ins Wasser und sprangen kopfüber in die rhythmisch heranrollenden Wellen. Die Mädchen zierten sich, sie beratschlagten kichernd. Als das erste schließlich im Badeanzug ins Wasser rannte, schlüpften auch die anderen flink in ihre Badeanzüge und Bikinis und rannten kreischend hinterher.
Die Lehrer und Betreuer sahen amüsiert dem Badevergnügen zu. Sie hätten wohl gern mitgetan, doch sie waren einander noch wenig bekannt und warteten erst einmal ab.
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