Warum nur hatte es der Erpresser so eilig? Unter welchem Zeitdruck musste er selbst oder sein Auftraggeber stehen, dass ihr nur eine Frist von vierundzwanzig Stunden gegeben worden war! Dabei waren es noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden, sondern es war eigentlich nur ein schlichter Arbeitstag! War die Eile nicht ein weiteres Indiz, das ihre Vermutung zu den Hintergründen stützen konnte? War der Zeitdruck eine Konsequenz des aktuellen Tagesgeschehens? Wahrscheinlich! Sie würde sich sputen müssen, um alle Erledigungen, die für den neuen Tag anstanden, zu schaffen. Es würde schon überaus schwierig sein, alle Vorkehrungen zu treffen, um die Forderung des Erpressers erfüllen zu können. Hoffentlich würde es ihr gelingen, es musste ihr gelingen! Es würde am besten sein, wenn sie zum frühest möglichen Zeitpunkt ihren Dienst beginnen würde.
„Um halb sieben also am Eingang“, ging es ihr durch den Kopf.
Und dann wollten auch ihre eigenen Pläne umgesetzt werden, ihre Pläne, dem Erpresser beizukommen, ihm und der wahrscheinlichen Person im Hintergrund. Es mussten die Vorkehrungen getroffen werden, um ihn oder auch mehrere Personen später der Polizei in die Hände spielen zu können.
Sie würde sich die Zeit gut einteilen müssen, um alle Erledigungen schaffen und sich an die Öffnungszeiten halten zu können, die ihrem Handeln Schranken setzen konnten. Sie würde es schaffen!
Wie es Nina wohl ging? Sollte sie schnell vor der Arbeit zu ihr fahren und nach ihr sehen? Hatte sie genügend Zeit, würde sie Nina nicht vielleicht aus dem Schlaf reißen, der ihr sicherlich gut tun musste?
Sie hatte sich noch nicht entschieden, als das Telefon läutete.
12 – Ein trennendes Geheimnis
„Kurz nach sechs Uhr, Mutti wird inzwischen auf den Beinen sein“
Nina sah sich mit einem Blick auf ihre Armbanduhr vom Warten erlöst und nahm das Mobilteil ihres Telefons zur Hand, um die Rufnummer ihrer Mutter zu wählen.
„Lange?“, hörte sie kurz darauf deren fragende Stimme.
„Ich bin´s, Nina. Wie geht´s?“
„Bei mir ist alles in Ordnung“, kam es von Erika Lange zurück. „Aber sag bitte zunächst einmal, wie es dir geht? Hast du…?“
Sie unterbrach sich, um jedoch sofort darauf fortzusetzen: „Hast du einigermaßen schlafen können?“
In ihrer Stimme schwang die große Sorge um das Wohl der Tochter mit. Sie schien zudem darauf bedacht zu sein, Ninas Erlebnisse des Vortages nicht direkt anzusprechen und jede Bemerkung zu vermeiden, die darauf hinweisen konnte.
„Mit dem Schlafen hat es nicht so geklappt, aber sonst bin ich ganz okay.“
Ehe die Mutter weitere Fragen zu ihrem Befinden stellen konnte, wollte Nina das Gespräch auf den gestrigen Anrufer lenken.
„Hat sich der Fremde gestern wie angekündigt wieder gemeldet?“
„Ja, so gegen elf Uhr in der Nacht hat er angerufen.“
„Nun sag schon! Was hat er gewollt?“
„Er hat...“
Erneut brach sie ab, um jedoch wie zuvor unmittelbar darauf fortzusetzen.
„Er hat, sagen wir es mal so, mich gebeten, etwas für ihn zu erledigen.“
„Er erpresst dich also!“, schloss Nina gedankenschnell. „Er erpresst dich also, und wahrscheinlich mit den Bildern von mir! Er droht damit, für eine Verbreitung der Fotos zu sorgen! Ist es so?“
„So muss man es wohl ausdrücken.“
Nina spürte, wie eine innere Wut rasend schnell von ihr Besitz ergriff.
„Was will er genau von dir?“
„Ich kann dir nicht mehr dazu sagen, Nina“, kam es nach kurzem Zögern zurück.
„Du sollst mir nichts sagen! Er hat es von dir verlangt!“
Erika Lange atmete deutlich vernehmbar tief durch.
„Wir haben uns auf ein absolutes Stillschweigen verständigt. Das gilt auch dir gegenüber, Nina“, erklärte sie dann.
„Vereinbart!“
Ihre Wut und zugleich auch ein beklemmendes Gefühl der Ohnmacht entluden sich in ihrem Ausruf.
„Er verlangt etwas von dir, womit du dich selbst in Gefahr bringst“, bohrte sie weiter, indem sie die Mutter mit einer Behauptung konfrontierte, der sie widersprechen konnte, wenn ihre Unterstellung fehl ging. Dabei würde sie Details preisgeben müssen.
„Nein, Nina, so ist es nicht!“, ließ sich Erika Lange zwar zum Widerspruch provozieren, reagierte aber bewusst bedächtig. So lief sie nicht Gefahr, von ihrer Linie, inhaltlich nichts zu sagen, unbedacht abzuweichen.
„Ich bringe mich nicht in Gefahr, wenn ich seinem Verlangen nachkomme“, ergänzte sie.
„Hat er etwas verlangt, was mit deinem Dienst zu tun hat?“
„Lass es jetzt bitte gut sein, Nina! Und mach dir keine Sorgen!“
„Er will also etwas von dir, was mit deinem Dienst zu tun hat!“
Für einen Augenblick blieb es still in der Leitung, bis sich die Stimme der Mutter wieder meldete.
„Hab bitte Verständnis, Nina! Ich muss zur Arbeit. Schon dich heute bitte, damit du dich von den gestrigen Strapazen erholen kannst! Wenn du Hilfe brauchst, oder wenn ich sonst etwas für dich tun kann, dann melde dich bitte!“
„Sei bitte vorsichtig, Mutti“, lenkte Nina ein. „Ich weiß, dass du das, was du tust, für mich tust. Mach bitte nichts Unüberlegtes!“
„Ich verspreche es!“
Noch bis spät in die Nacht hinein hatte Alex, als er vom Besuch bei Nina zurückgekehrt war, versucht, sich in den Rechner einzuhacken, auf dem der Fremde die Bilder seiner ehemaligen Lebensgefährtin ins Internet gestellt hatte, doch irgendwann hatte er todmüde seine Versuche abbrechen und zu Bett gehen müssen. Am heutigen Morgen hätte er eigentlich zur Arbeit gehen müssen, doch den damit verbundenen Aufschub seiner Bemühungen zumindest bis zum späten Nachmittag hatte er nicht in Kauf nehmen wollen und deshalb kurzfristig telefonisch einen Urlaubstag mit seinem Chef vereinbart. Gleich morgens hatte er sich an seinen PC gesetzt und die Versuche, sich Zugang zum Webverzeichnis des Fremden zu verschaffen, wieder aufgenommen. Im Verlauf des Vormittags hatte er irgendwann endlich Erfolg und erlangte den erhofften Zugriff. Er kopierte alle Dateien auf seinen Rechner, um sie zu sichern, ersetzte die Eingangsseite des Fremden durch eine neue und löschte die Bilder von Nina sodann. Zuletzt stellte er, den zweiten Teil seiner Arbeiten einleitend, ein kleines Programm in das Verzeichnis auf dem Server, das als so genannter Trojaner arbeitete. Einerseits sollte dieser Trojaner dafür sorgen, die IP jedes Computers, mit dem auf die Eingangsseite zugegriffen wurde, auszulesen und per Email an sein Postfach zu senden, welches er extra für diesen Zweck zuvor bei einem Gratisanbieter unter falschen Namensangaben eingerichtet hatte und nach der bestimmungsgemäßen Verwendung aus Sicherheitsgründen umgehend wieder aufgegeben werden sollte. Andererseits sollte ihn dieses kleine Programm dann, wenn er während des Zugriffs auf die Webseite selbst online war, hierüber informieren und ihm die IP des fraglichen Rechners unmittelbar zur Verfügung stellen. Alex war sich bewusst, dass der Fremde die Bilder auch irgendwo lokal gespeichert vorhalten musste. Er hoffte, dass er aufgrund von Arglosigkeit ohne besondere Vorsichtsmaßnahmen vorgegangen war und weiter vorging und die Dateien nur auf der Festplatte seines Computers gespeichert hatte. Sollten die Bilder jedoch auch auf einem anderen Medium wie zum Beispiel CD, Diskette oder noch auf dem Chip einer Digitalkamera gespeichert worden sein, so bestand ohnehin keine Möglichkeit einer Einwirkung aus der Ferne. Er wollte versuchen, sich Zugriff auf den PC des Fremden zu verschaffen, um dessen Festplatte zu formatieren oder die fraglichen Dateien zumindest zu zerstören. Um dieses Vorhaben umsetzen zu können, musste er die sofortige Kenntnis vom fremden Zugriff auf die Webseite und von der IP des fraglichen Computers erlangen, wofür er die zweite Funktion des Trojaners unbedingt benötigte.
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