»Fragt sich nur, wo ich so schnell Ersatz herbekomme!«
Der Gast lachte und ging zur Tür.
»Dir wird schon etwas einfallen, Thomas. Gehab dich wohl!«
Anna trat zwangsläufig zur Seite, um den Mann nach draußen zu lassen, und fiel erst jetzt dem Wirt auf. Er zog die buschigen Brauen zusammen, musterte ihre staubige Kleidung.
»Wir geben nichts!«
Die guten Christen, musste Anna unwillkürlich denken, ließ den Gedanken jedoch nicht den Weg auf ihr Gesicht finden. Schüchtern trat sie näher, schüttelte den Kopf.
»Nein, nein, Herr, ich will keine Almosen! Ich suche Arbeit!«
»Arbeit? Hier?« Erstaunt ließ der Wirt sein Bierglas sinken. »Du bist so ein dürrer Stecken, was willst du hier denn schon machen?«
Entrüstet stemmte Anna die Hände auf die Hüften.
»Dürrer Stecken? Ich kann arbeiten wie ein Pferd! Was mir an Kraft zum Heben fehlt, mache ich durch Schnelligkeit wett. So schnell wie ich bin, habt Ihr noch keine Schankmaid gesehen. Ich kann vielleicht kein Fass aus dem Keller holen, aber ich kann einschenken und bedienen, kochen und putzen und waschen. Und ich kann zwar nicht lesen und schreiben, aber rechnen!«
Ein ungläubiges Lachen hallte durch den Raum, und der Wirt stellte sein Bierglas auf den Tresen.
»Rechnen? Du? Ein Mädchen? Dazu eins, das aussieht, als sei es in der Gosse groß geworden?«
Tatsächlich war es ungewöhnlich, dass eine Frau rechnen konnte. Aber Silvanus war kein normaler Mann, und Rechnen war das Erste, was er seinen Huren beibrachte, damit sie nicht von den Freiern übers Ohr gehauen wurden. Mit hochgerecktem Kinn kam Anna näher.
»Ich kann es Euch beweisen! Ihr sagt mir, wie viel Eure Getränke kosten und lasst mich eine beliebige Bestellung zusammenrechnen. Wenn ich es richtig mache, stellt Ihr mich dann ein?«
Der Bärtige lachte schallend.
»Wenn du es richtig machst, stelle ich dich nicht nur ein, du darfst auch noch umsonst bei uns essen und wohnen UND ich kaufe dir ein Kleid zum Bedienen! Mathilda, komm raus, das musst du sehen!«
Eine dunkelhaarige Frau mit gewaltigen Formen, die von ihrem Kleid kaum gebändigt werden konnten, kam aus der Küche, wischte sich die Hände an ihrer fleckigen Schürze ab.
»Was muss ich sehen, Thomas?« Sie entdeckte Anna, und ihre Miene verfinsterte sich. »Schon wieder eine Bettlerin?«
Thomas lachte.
»Die Kleine will hier als Schankmaid arbeiten. Sie sagt, sie kann rechnen!«
Nun lachte das Wirtspaar gemeinsam, bis Anna mit der Hand auf den Tresen klopfte.
»Jetzt macht schon! Lachen könnt ihr noch, wenn ich mich verrechnet habe!«
Thomas sah sie lauernd an.
»Also gut, Mädchen!«
Der Wirt des ›Kruges‹ beugte sich auf Anna zu und ratterte eine Getränkeliste herunter, gab dann eine gemischte Liste von Wein und Bier an und schob der Rothaarigen eine Tafel und einen Griffel zu, aber sie nahm ihn gar nicht.
Die Augen zur Decke gerichtet, murmelte sie gedämpft ein paar Zahlen vor sich hin und nannte dann dem Wirt mit herausforderndem Blick die Summe.
Thomas fiel die Kinnlade herunter, und es war so still im Raum, dass man aus der Küche etwas in der Pfanne brutzeln hören konnte.
Schließlich brach Mathilda das Schweigen.
»Was is nu, Thomas? Hat sie´s?«
»Hol mich doch der Teufel, sie kann rechnen«, japste der Wirt. »Und das, ohne eine einzige Zahl aufzuschreiben!«
Mathilda schürzte die Lippen und griff Anna am Arm. Wieder einmal wünschte sie sich, ihr Mann würde den Mund nicht immer gleich so voll nehmen!
»Komm mit. Ich zeig dir dein Zimmer! Aber in unserem Haus wird nicht gehurt!«
Vor den Toren Münsters, Oktober 1533
Markus war voller Sorge. Seit Wochen war Anna in der Stadt. Doch außer einigen knappen Botschaften hatte er nichts von ihr gehört. Er verstand zwar, dass sie sich zurückhalten musste, um nicht aufzufallen, aber er wurde langsam wahnsinnig vor Sorge!
Er musste in die Stadt, er hielt es nicht mehr aus. Alles wäre besser als diese Ungewissheit! Gemeinsam mit Hauptmann von Waldow überlegte er, wie man dies bewerkstelligen konnte. Sein Vorgesetzter war nicht besonders erbaut davon, dass ausgerechnet Markus nach Münster wollte, aber er sah ein, dass es sinnlos war, es dem jungen Mann ausreden zu wollen, und so dachten sie gemeinsam nach.
Was ihnen einfiel, war zwar voller Risiken und Unabwägbarkeiten, doch erschien es Markus und seinem Vorgesetzten als die einzige Möglichkeit.
Jetzt stand er vor den Männern, die eingeweiht waren, ein wenig abseits des Lagers, und sah sie an. Markus trug keine Uniform, sondern alte und verschlissene Sachen, sein Gesicht war schmutzig und seine Haare strähnig. Im Grunde wirkte er wie jemand, der seit Tagen oder sogar Wochen auf der Flucht war.
»Ihr wisst, was zu tun ist?«
Astheimer nickte grimmig.
»Ja, aber es gefällt mir nicht. In Ravensburg, da hätte ich dich zu gerne zum Teufel gejagt. Aber hier? Nein, Markus, das ist doch …«
»Es muss sein.« Er legte dem großen Mann eine Hand auf den Arm. »Glaub mir, es gibt keine andere Möglichkeit.«
Astheimer seufzte, sah zu Bachmüller und Dunzweiler, die nur mit den Achseln zuckten.
»Dann lass uns mal anfangen.«
Markus nickte erneut, lächelte flüchtig.
»Ihr wisst, ich komme wieder.«
»Wenn nicht, komm ich dich holen«, brummte Bachmüller. »Und wie wir das Max erklären sollen, das weiß ich auch noch nicht.«
Der Hüne und beste Freund von Markus hatte nicht eingeweiht werden können. Die Gefahr, dass er sich verplapperte, war zu groß. Markus wusste, es würde seinem Freund wehtun, aber am Ende würde er es verstehen.
»Dann los«, grinste Astheimer.
Markus drehte sich um und rannte los, weg von seinen Gefährten, die noch etwas warteten und dann hinter ihm herliefen.
Der junge Soldat drehte sich nicht um, als er die schweren Schritte Astheimers hörte, der ihn schon beinahe eingeholt hatte. Er brach durch das dürre Gebüsch, dass die Straße nach Münster säumte, wandte sich nach rechts und lief, als wenn der Leibhaftige hinter ihm her wäre.
»HALTET DEN DESERTEUR!«
Dunzweiler brüllte, so laut er konnte. Der Effekt war wie erwartet. Die Wachen am Tor starrten in ihre Richtung, einer pfiff laut und mehrere Bewaffnete stürmten die Straße hinunter, Markus entgegen. Als er sie erreichte, packte ihn einer und warf ihn in den Staub.
»Halt still oder dein Kopf rollt alleine weiter«, zischte der Wachsoldat. Die anderen bildeten einen Ring um ihn.
»Anhalten!«, rief jetzt einer den Kameraden des im Staub liegenden Markus zu. »Was soll das?«
Astheimer und seine Kameraden blieben stehen.
»Das da«, zischte Dunzweiler, »ist ein feiger Deserteur. Wir jagen ihn seit drei Tagen. Übergebt ihn uns, damit wir ihn aufknüpfen können.«
»Stimmt das, Bursche? Bist du abgehauen?«
Markus wurde unsanft auf die Beine gestellt und senkte den Kopf.
»Ja, Herr«, murmelte er.
»Und warum?«
»Spielt das eine Rolle?«, fauchte Dunzweiler. »Dieser feige Hund will nicht gegen euch kämpfen, wenn es so weit ist. Faselt was von Taufe und dass unser Glaube falsch ist und was weiß ich.«
Der Anführer der Wache überlegte, dann traf er eine Entscheidung.
»Wenn er aus den Gründen, die Ihr sagtet, geflohen ist, genießt er vorläufig den Schutz Münsters. Wir werden den Fall besprechen. Wenn wir entscheiden, dass er nur ein einfacher Deserteur ist, nehmen wir euch die Arbeit ab und ihr könnt ihn dort«, er deutete auf eine Zinne auf der Mauer, »hängen sehen.«
»Das glaubt Ihr selber nicht! Der kommt mit uns!«
Astheimer drängte sich in den Vordergrund und zog seinen Beidhänder langsam aus der Scheide.
»Hoho, langsam!« Der Anführer der Wachen, die deutlich in der Überzahl waren, musste fast schon grinsen. »Ihr seid nur zu dritt. Aber Euer Benehmen zeigt mir, dass ich mit meiner Entscheidung Recht habe. Ihr trollt euch besser alle drei, bevor wir euch Beine machen.«
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