Es folgte ihnen auch niemand, als sie durch die engen Gassen zum Domplatz zogen. Dennoch war der Platz voller Menschen, und sie starrten die Gaukler an. Jeder einzelne Blick schien Anna wie eine Lanze, die sich ihnen entgegenstreckte, um sie aus der Stadt zu vertreiben.
Mit dem letzten Trommelschlag des Liedes erreichten sie ihren Standort direkt vor der Dompforte. Schon als sie auf ihrem Weg an St. Lamberti vorbei gekommen waren, hatte Anna erstaunt festgestellt, dass man das Portal der Kirche mit Brettern vernagelt hatte. Dasselbe war mit dem Dom passiert, aber die Gauklerin hatte keine Zeit, sich darüber zu wundern, denn noch bevor Ludwig das nächste Lied anstimmen konnte, begannen die Rufe.
»Sünder!« »Teufel!« »Verschwindet!«
Anna und Barbara tauschten einen Blick, und Anna sah noch, wie ihre Freundin den Mund öffnete, um mit ihr zu sprechen, als etwas sie hart am Kopf traf, und Barbaras Worte verwandelten sich in einen erschrockenen Schrei. Anna taumelte, fing sich aber noch, bevor sie im Staub landen konnte. Sie spürte, dass ihr eine Flüssigkeit am Kopf herablief und glaubte im ersten Moment, man habe sie mit einem faulen Ei oder einer Frucht beworfen, aber als sie ihre Schläfe berührte und dann ihre Finger begutachtete, sah sie dunkelrotes Blut.
»Raus hier, nichts wie raus!«
Caspar packte sie am Arm und zerrte sie mit, als die Gruppe ihr Heil in der Flucht suchte. Die Männer nahmen die Frauen in die Mitte, als immer mehr Steine, faules Obst und Gemüse zu fliegen begannen, und Anna schützte ihren Kopf mit den Armen, rannte wie in Trance mit den anderen mit, obwohl ihr Kopf schmerzte und ihr schwindelig war.
Das Geschrei um sie herum wurde immer lauter, die aufgebrachten Münsteraner griffen nach ihnen, doch der starke Adam hatte sich an die Spitze der Gruppe gesetzt und pflügte durch die Menschen hindurch wie ein Stier. Als sie den Domplatz hinter sich ließen, stellte sich ihnen niemand mehr in den Weg, der Hagel von Gegenständen ließ nach, und es wurden nur noch Fäuste drohend in ihre Richtung geschüttelt.
Dennoch war Anna grenzenlos erleichtert, als sie durch das Mauritztor stürzten und halbwegs unbeschadet aus der Stadt entkamen, wenn auch völlig besudelt und verdreckt.
»Was zum Teufel war das?«, keuchte die Rothaarige entsetzt.
Ludwig wischte sich ein faules Ei aus dem Gesicht.
»Eine Stadt voller Spaßverweigerer!«
W
Nach drei Stunden kehrten Markus und seine Männer zurück. Es war eine ereignislose Patrouille gewesen. Niemand hatte sie beschossen oder war ihnen begegnet. Sie hatten die Mauer betrachtet, nach Schwachstellen gesucht, aber nichts gefunden. Markus war frustriert, als er sein Pferd zu Max brachte, der es abrieb und fütterte.
»Markus geht zu rote Anna?«
»Was? Ja«, antwortete er, während er seinem Freund half. Er war in Gedanken immer noch unterwegs, rief sich das Bild der Mauer ins Gedächtnis. Wie konnte man in die Stadt gelangen, ohne Aufsehen zu erregen? Und wie konnte man das Vertrauen dieser Wiedertäufer erringen? Langsam reifte eine Idee in ihm.
»Los. Max macht allein. Markus muss Anna glücklich machen. Und sich selber!«
»Bist du sicher? Ich helfe dir gerne, du bist mein Freund.«
In Wahrheit wäre er am liebsten sofort nach der Rückkehr zu Anna gelaufen, aber er wollte seinen besten Freund nicht wieder vernachlässigen. Diesen Fehler hatte er einmal gemacht und schmerzhaft dafür bezahlt. Max grinste.
»Wenn Markus glücklich, dann auch Max.«
Markus umarmte seinen Freund.
»Danke.«
»Aber Markus erst waschen. Stinkt wie totes Wiesel!«
Der junge Soldat stutzte.
»Was würde ich nur ohne dich machen?«
Max lachte.
»Stinken wie totes Wiesel!« Er zeigte in eine Ecke des Stalls. »Max gemacht warmes Wasser.« Dann zwinkerte er ihm zu. »Aber Markus nicht glauben, Max ihn waschen!«
Max hatte in der Tat zwei Stunden damit verbracht, genug Wasser aus den fast ausgetrockneten Bachläufen zu holen, damit Markus sich baden konnte. Aber er tat es gerne für seinen Freund, wusste er doch, dass Markus bei Anna glücklich war. Erfrischt und sauber machte er sich etwas später auf den Weg zu Annas Wagen. Er klopfte an die Tür und hörte ein zaghaftes »Herein«. Als Markus in den Wagen trat und Anna ihn ihrem Bett und auf dem Boden lauter blutige Tücher sah, wurde er bleich.
»Wer war das?«, zischte er. »Ich bring ihn um!«
Münster, August 1533
»Münster wird belagert!«
Jan Beukelszoon, der 23-jährige Mann aus Leiden, blieb stehen. Seit einigen Tagen hielt der Kaufmann sich in Münster auf. Die Predigten des Bernd Rothmann hatten ihn in den Bann gezogen. Wie gebannt hing er jedes Mal an dessen Lippen, sog die Worte in sich auf. Es erschien ihm, als wenn nur er angesprochen würde.
Schnell hatte er die Nähe des charismatischen Predigers gesucht und ihm wurde klar, dass er bei den Wiedertäufern seine Heimat gefunden hatte. Allerdings schien es ihm, dass Rothmann nicht der richtige Führer für die Bewegung war. In Beukelszoons Augen war er zu schwach, um den Glauben weiter zu verbreiten.
Als er erkannte, was vor den Toren der Stadt vor sich ging, fasste er einen Entschluss. Mit Predigten und Gebeten würde man nicht mehr weiterkommen. So war er zu Rothmann, der in seinem Zimmer saß und an einer Predigt arbeitete, gegangen. Dieser ließ sich jedoch nicht stören. Bis zu diesem Moment.
»Wie belagert?« Der Prediger sah von seinem Manuskript auf. »Wer belagert uns?«
Beukelszoon zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger aus dem Fenster in Richtung Stadtmauer.
»Die Soldaten da draußen! Was denkt Ihr, was sie dort tun? Für mich sieht das nicht so aus, als ob sie hier zur Erholung sind.« Er holte tief Luft und begann seine Wanderung durch das Zimmer erneut. »Seit Ihr Bischof von Waldeck vertrieben habt, sind immer mehr Soldaten eingetroffen. Und es sieht so aus, als ob sie nicht mehr in die Stadt kommen, wie sie es bisher getan haben.« Er blieb wieder stehen, sah Rothmann ins Gesicht. »Mit jedem Tag werden es mehr. Dazu die Unmengen von Menschen, die in die Stadt strömen.«
»Das ist doch gut, zeigt es doch, wie stark wir geworden sind.«
»Stark? Das nennt Ihr stark? Ein Haufen Bauern, Tagelöhner, Nichtsnutze und Huren! Wie wollt Ihr damit die Stadt verteidigen? Und mit welchen Waffen? Mistgabeln und Bratpfannen?«
»Man wird uns nicht angreifen!«
»Nicht angreifen?« Beukelszoon hob die Hände, ließ sie wieder fallen. »Ich sage Euch jetzt etwas: Was der Stadt fehlt, ist eine starke Führung! Jemand, der nicht nur predigt, sondern organisiert! Waffen, Vorräte! Und den Menschen sagt, was zu tun ist.«
Rothmann lehnte sich zurück.
»Ach, und wer soll das sein? Und wie soll das gehen?«
»Ich werde bald abreisen und mich mit Jan Matthys treffen. Ihr habt mir gezeigt, was der wahre Glauben ist, und dafür werde ich Euch auf ewig dankbar sein. Ihr habt meine Zweifel mit Euren Predigten und den Gesprächen, die ich mit Euch führen durfte, beseitigt. Der Weg liegt jetzt klar vor mir.« Er hieb mit einer Hand auf den Tisch. »Aber wir dürfen nicht zulassen, dass wir hier wie ängstliche Kaninchen auf den Fuchs warten! Wir müssen eine starke Gemeinschaft bilden. Und diese Gemeinschaft braucht eine starke Spitze.«
Er wandte sich ab, spürte die Blicke Rothmanns auf sich ruhen, der mit sanfter Stimme sprach.
»Mein junger Freund, Ihr seid aufgebracht. Habt Ihr etwa Angst? Unser Reich, das wir hier erschaffen, wird ewig währen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis alle begreifen, was wir hier tun. Und dann wird uns das gesamte Kaiserreich folgen.«
»Worte!« Er ging zur Tür, drehte sich noch einmal um. »Ich werde zurückkehren. Und dann werde ich mit Eurer Hilfe dieses Reich erschaffen! Ihr als der geistige Führer und ich als der weltliche. Das Reich der Täufer!«
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