» Komm jetzt, Katie. Es ist Zeit, das Abendessen zu machen.« Vor der Zimmertür saß Ramses. »Was tust du hier? Du musst draußen bleiben.« Normalerweise gehorchte der Hund. Er durfte selten mit ins Haus.
»Er wollte die Musik hören. Er hat Mamá immer zugehört.«
»Deine Mamá hat Klavier gespielt?«
Katja nickte und schob die Küchentür auf.
»Emma, soll ich den Tisch decken?«
»Wenn du magst, kannst du mir dabei helfen.«
»Hast du die Musik gehört?«
»Ja, es war wunderhübsch.«
»Darf ich bei dir essen? Bei Dad gibt’s immer nur Nudeln.«
»Aha, du magst also meine Nudeln nicht?« Julian stand mit Florias Kleidertüte in der Tür.
»Oh, doch, aber nicht jeden Tag. Schau, Emma hat wieder Kartoffelsuppe gekocht.« Katja deutete auf ein Schneidebrett. »Und da liegen Würstchen. Die reichen für uns alle.«
»Hast du Emma gefragt?«
Dem Blick, mit dem Katja zu Emma aufschaute, hätte niemand widerstanden.
»Julian, es reicht für uns alle, wenn nicht, halte ich den Topf unter den Wasserhahn.« Emma zog ein Messer aus dem Block. »Eigentlich wollten auch Alex und Thomas noch kommen.«
Wie aufs Stichwort hörte man ein Auto vorm Haus halten und gleich darauf Türen schlagen.
Katja rannte los, um die Besucher zu begrüßen.
»Du verwöhnst sie«, sagte Julian.
»Ja«, meinte Emma, »dafür sind Großmütter da.«
Floria stand am Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus. Sie dachte an das, was Katja ihr gesagt hatte. Ramses musste demnach mindestens fünf Jahre alt sein. Sie würde Emma fragen. Vielleicht wusste sie, warum Julian so ablehnend auf den Wunsch seiner Tochter reagierte.
Ihr Handy vibrierte. »Ich bin gleich da, wartet nicht mit dem Essen auf mich.«
Floria lachte. »Längst erledigt. Bis gleich, Susan.«
»Wann kommt Susan zurück?« Emma saß mit Julian am Küchentisch. Zwischen ihnen standen einige halbvolle Gläser und eine Flasche Rotwein. Daneben lag verwaist das Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel, das sie mit Katja gespielt hatten.
»Sie sitzt im Taxi auf dem Weg hierher.«
Alex und Thomas hatten sich für ihre Schachpartie an den Tisch vor dem Sofa zurückgezogen, auf dem Katja inzwischen eingeschlafen war.
Thomas fragte: »Wer ist Susan?«
»Florias Freundin«, grummelte Alex. »Und nun konzentriere dich bitte auf deinen Zug. Du wirst mal wieder verlieren.«
Ramses schlug kurz an.
»Meine Güte, was für ein Monster. Haben Sie keine Angst, Julian, dass er Ihre Tochter eines Tages frisst?«
Susan stand in der Küchentür, erhitzt und strahlend. Sie entledigte sich ihrer hochhackigen Schuhe, indem sie einen nach dem anderen von den Füßen schüttelte, und warf den Mantel über den nächsten Küchenstuhl. Die Einkaufstüten ließ sie neben der Tür fallen.
Floria dachte, was für ein Auftritt. Du hast es wirklich drauf. Und du siehst aus wie eine Frau, die befriedigenden Sex oder einen ebenso befriedigenden Einkaufsbummel hinter sich hat. Ihr fiel der Tenor ein, mit dem sich ihre Freundin hatte treffen wollen. Vermutlich hattest du beides. Sie bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck.
»Guten Abend, Emma.«
»Guten Abend, Liebes, wir haben eine Garderobe.«
Emma betrachtete die Unordnung, die Susan innerhalb von Sekunden um sich herum verbreitet hatte.
Susan lachte. »Entschuldige, Emma.«
Sie sammelte ihre Sachen zusammen und verschwand. Als sie wieder erschien, saß Thomas immer noch mit halb geöffnetem Mund auf seinem Stuhl. Das Schachspiel mit Alex hatte er vollkommen vergessen.
»Susan, das ist Doktor Müller, Emmas Hausarzt.«
»Thomas«, sagte er, als Susan ihm die Hand reichte.
»Susan.«
Julian schnappte sich seine verschlafene Tochter. »Nach Hause mit dir, mein Liebling.« Sie schlang ihre Arme um Julians Hals. Über seine Schulter hinweg sah sie zu Emma. »Darf ich morgen wieder kommen?«
»Ja, Katja, das darfst du.«
Floria begleitete die beiden bis zur Haustür. Ramses erhob sich und folgte Julian und Katja. Hatte er seine kleine Herrin adoptiert, nachdem ihre Mutter gestorben war? Rührend, dachte sie. Dieses graue Monster, wie Susan Ramses nannte, ließ Katja niemals aus den Augen, so, als argwöhnte er, er könne auch sie verlieren.
Floria schaute ihnen lange hinterher.
Mit Laura Sontheims Hilfe, der Unterstützung eines Stimmtrainers und eines Pianisten hatte Floria vor einigen Wochen begonnen, sich die Arien, die Christof ihr geschickt hatte, zu erarbeiten.
Zweimal in der Woche fuhr sie in die Stadt.
Wenn Laura nicht gewesen wäre, hätte sie aufgegeben. Die Lieder und Arien waren anspruchsvoll. Sie musste die Musik auswendig lernen, das dauerte lange und sie war nie mit sich zufrieden. Noch hatte sie mit Susan nicht darüber gesprochen. Sie wollte sicher sein, dass sie es schaffte, nicht aufzugeben, bevor sie es ihr sagte.
So als ob Christof sein Schicksal vorausgeahnt hätte, ging es, wie in den großen Konzertarien von Haydn, Beethoven, Mozart und Mendelsohn, um Sehnsucht und Liebe, Abschied und Tod. Komm zurück, mein Liebster.
Oft genug brach sie in Tränen aus, wenn sie die Texte las. Aber langsam brach ihr innerer Widerstand, sich der Realität seines Todes zu stellen.
Je mehr sie sich darauf einließ, desto besser ging es ihrer Stimme.
Dennoch, sie fiel immer wieder in tiefste Verzweiflung, was den Umgang mit ihr, weder für sie selbst, noch für ihre Umgebung, einfach machte.
Christof hätte sich gewünscht, dass sie sang. Und nun rang sie darum, seinen letzten Wunsch zu erfüllen.
Deine Stimme in meinem Herzen.
Die Straße vor ihr war leer. Sie stand noch vor der Tür und blickte in die Dunkelheit, in der Julian mit Katja und Ramses längst nicht mehr zu erkennen waren. Sie würde Katja vermissen. Die Klavierstunden mit ihr. Die Begeisterung dieses kleinen Mädchens hatte sie angesteckt. Sie erinnerte sie an die Leidenschaft, mit der sie selbst sich der Musik hingegeben hatte.
Alex und Thomas drängelten an ihr vorbei. »Gute Nacht, Floria.«
Floria verschloss die Haustür. Sie würde alle hier vermissen, wenn sie wieder anfinge zu arbeiten.
In der Küche hörte sie Emmas Gelächter.
»Ja, Susan, das solltest du tun. Ich habe auch den Eindruck, dass du ein ganz klein wenig heiser klingst. Thomas ist aber kein Hals-Nasen-Ohrenarzt.«
»Macht nichts. Ich werde mich morgen mal bei ihm anmelden.« »Brich ihm nicht das Herz.«
»Ich werde sehr vorsichtig sein, Emma. Versprochen.«
Ach Susan, dachte Floria. Du verliebst dich jeden Tag neu.
Gegen Abend hatte Susan ihren Termin in Thomas’ Praxis.
Floria saß mit Emma allein in der Küche. Sie hatten die Fenster weit geöffnet. Eine Amsel sang auf dem höchsten Ast des Apfelbaumes ihr Abendlied. Die Töne schraubten sich immer höher in den Himmel.
»Wie schön.« Emma hob den Kopf und schlug ihr Buch zu. »Komm, Kind!« Sie verstanden sich ohne Worte. Arm in Arm schritten sie durch den Garten. Im hinteren Teil stand versteckt eine Gartenbank.
»Ach, Emma, wie oft haben wir hier gesessen und der Amsel zugehört. Ob es immer noch dieselbe ist?« Sie seufzte. »Ich war in den letzten Jahren viel zu selten hier.«
Emma drückte Florias Arm. »Du warst immer bei Alex und mir. Wir haben die Musik, die du uns geschickt hast, gehört und viel von dir gesprochen.«
»Emma …«
»Ich weiß, Kind, du musst wieder gehen, es ist dein Leben. Deine Karriere.«
Floria berichtete Emma von ihren Fortschritten bei Laura und dass sie endlich Erfolg bei ihrem Stimmtrainer hatte.
»Ich habe vor Wochen die Kopie von Christofs Liedern an einen befreundeten Dirigenten geschickt und ihn gebeten mir mitzuteilen, was er davon hält.«
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