»Ruf sie an. Alex ist bei ihr. Sie wird verstehen, dass du das verlockende Angebot, von mir zum Abendessen eingeladen zu werden, unmöglich ausschlagen kannst.«
Floria musste lachen. Dass sie seine Einladung wirklich verlockend fand, würde sie ihm nicht sagen.
»Besuch deinen Verleger allein. In diesem Räuberzivil kann ich kein anständiges Lokal betreten.«
Sie trug schmale braune Hosen, die in hohen Winterstiefeln steckten. Der Rollkragen eines weißen Pullovers schmiegte sich um ihren Hals.
In diesem Aufzug würde ich dich überall mit hinnehmen, dachte er und sagte: »Oh, ich hatte an Currywurst am Stand dort drüben gedacht.«
Zwei Stunden später betrat Floria ein gemütliches Restaurant. Julian sah ihr entgegen und dachte, eine Primadonna betritt den Raum.
Von der jungen Frau in Arbeitshosen, dicken uralten Wollpullovern und Kopftuch war dieses Geschöpf weit entfernt.
Ein Kellner nahm ihr den Mantel ab. Darunter trug sie ein schlichtes schwarzes Kostüm mit einem korallenroten Top. Die hochhackigen Schuhe machten sie ein paar Zentimeter größer. Julian erhob sich und kam ihr entgegen.
»Wo hast du denn Emmas Enkelin gelassen?«
Floria deutete auf eine hochglänzende Papiertüte mit dem Logo einer exklusiven Marke, die der Kellner sorgsam neben der Garderobe abgestellt hatte.
»Dort drin.«
»Die Arme.«
»Vermisst du sie? Ich habe gleich alles anbehalten. Ich hoffe nur, dass keine Preisschilder mehr an mir hängen.«
»Das würde den faszinierenden Gesamteindruck allerdings erheblich stören.«
»Ich habe Hunger.« Floria griff nach der Karte.
Julian fuhr langsam und vorsichtig. Sie befanden sich dort, wo Floria in einer Oktobernacht ihren Leihwagen abgewürgt hatte. Wie damals waren die Wege aufgeweicht. Der Wagen schlingerte in den breiten Fahrzeugspuren landwirtschaftlicher Geräte. Schmutzige Schneeberge türmten sich zu beiden Seiten des Weges. Es war deutlich wärmer geworden.
Vielleicht, dachte Floria, würde auf den Wiesen noch Schnee liegen, dann könnte sie noch einmal mit Katja Schlitten fahren.
Floria atmete auf, als Julian den Wagen vor Emmas Haus zum Stehen brachte. Emma stand im Licht der geöffneten Haustür.
»Kommst du noch mit herein, Julian?«
»Nein danke, Emma. Heute nicht. Ich muss den Babysitter ablösen.«
Er umarmte Floria flüchtig, winkte Emma zu, stieg in sein Auto und verschwand in der Dunkelheit. Mit ihm verschwand ihre Tüte.
Die musst du mir morgen wiederbringen, dachte Floria
»Komm rein, Kind. Willst du die ganze Nacht dort stehen und ihm hinterhersehen?«
Wenn ich mir etwas wünschen dürfte …, dachte Emma. Sie verbot sich, den Gedanken zu Ende zu denken. Ihre Wünsche waren die einer alten sentimentalen Frau und nicht von Bedeutung. Sie würden an der Wirklichkeit nichts ändern.
In der Küche saßen sich Alex und Thomas gegenüber. Sie starrten verbissen auf das Schachbrett zwischen ihnen und schauten nicht auf, als Floria und Emma den Raum betraten.
Emma legte den Finger an die Lippen. »Es geht um Tod und Leben«, flüsterte sie. »Sie sind heute besonders verbissen. Eine Tasse Tee?«
»Nein, Emma, gib mir einen von deinen Schnäpsen. Ich habe zu viel gegessen.«
Floria setzte sich mit Emma aufs Sofa.
Sie beobachtete die zwei Spieler am Tisch. Alex war schon bald nach Silvester in seine Junggesellenwohnung über Thomas’ Praxis zurückgezogen. Aber die beiden trugen ihre abendlichen Schachpartien so oft es ging in Emmas Küche aus. Ihr Sturz hatte allen klar gemacht, wie schnell ihr etwas passieren konnte.
Emma schien jedoch wieder ganz die Alte zu sein. Sie war immer eine starke selbstständige Frau gewesen, die nach ihren eigenen Gesetzen lebte. Und daran würde sich bis zu ihrem Tod nichts ändern. Nur in einem gehorchte sie. Sie holte weder Holz hinter dem Haus, noch Briketts aus dem Schuppen.
Das überließ sie Floria oder Tim.
»Ich erzähle dir morgen, wie es war, Emma.« Floria erhob sich und gab ihrer Großmutter einen Kuss. »Ich bin müde.«
»Gute Nacht, mein Kind.«
Zwei Tage später war Susan wieder da. Ihre Stimme war von morgens bis abends zu hören. Sie hatte viel zu erzählen, aber sie konnte auch zuhören. Florias wechselnden Launen begegnete sie mit Geduld. Sie trieb ihre Freundin am Morgen aus dem Bett und ließ nicht zu, dass sie nach ihren Albträumen bis zum Mittag schlief. »Du brauchst Bewegung und du solltest deine Stimmübungen wieder aufnehmen. Jeden Tag zur gleichen Zeit. Das ist wie Zähneputzen, das vergisst du auch nicht«, meinte Susan. Sie begleitete und unterstützte Floria auf dem Klavier. Dieses Instrument zu beherrschen, war für eine Opernsängerin eine Selbstverständlichkeit.
Von einem Tag zum anderen war der Frühling ausgebrochen. Die Natur erwachte zum Leben.
Die ersten Krokusse brachen aus der braunen Erde. Die Vorboten des Frühlings wurden von Emma besonders liebevoll begrüßt.
Tim kam jetzt täglich, um Gehölze und Beerensträucher zu beschneiden und den Obstbaumschnitt zu Ende zu bringen.
Bestimmte Arbeiten behielt sich Emma vor. An ihren geheimnisvollen Kräutergarten ließ sie niemanden heran.
Der letzte Schneemann, den Katja und Floria gebaut hatten, zerfloss im Garten. Katja hatte Anfang März ganz glücklich davor gestanden. Sie war nicht dazu zu bewegen gewesen, ins Haus zu kommen. »Ich warte, bis dem Schneemann Haare wachsen und ein Schnurrbart«, hatte sie erklärt. Unglücklich musste sie jetzt mit ansehen, wie er schrumpfte.
»Wir werden nächstes Jahr einen neuen bauen«, tröstete Floria sie. »Schau!« Floria deutete auf die Krokusse, die sich unter den Resten des Schneemannes aus der Erde gruben. »Er hat mit seinem dicken Hintern auf Emmas hübschen Blumen gesessen.«
Katja war leicht zu beruhigen.
»Wenn der Schnee wiederkommt, bauen wir eine Schneefrau. Die zerläuft vielleicht nicht so schnell.«
Sie nahm Florias Hand und zog sie mit sich.
»Wir setzen sie hier in den Hof, dann kann sie Emmas Blumen nicht zerdrücken.«
Susan beobachtete die beiden. Sie könnten Mutter und Tochter sein. Katja besaß das gleiche üppige Blondhaar wie Floria. Die großen dunklen Augen sahen erwartungsvoll zu ihr auf. Floria ging in die Hocke.
»Ja, Katie, das könnten wir tun.«
Die Kleine schlang ihre Arme um Florias Hals.
»Dauert das noch lange?«
Susan verstand nicht, was ihre Freundin erwiderte. Sie fragte sich, wo sie sein würden in ein paar Monaten.
Wie oft haben wir zusammen auf der Bühne gestanden. Werden wir das je wieder tun?
Floria schien hinter einem unsichtbaren Vorhang zu leben. Nicht wirklich erreichbar für ihre Umwelt. Nur Katja gelang es, den Vorhang beiseite zu schieben.
Floria war behütet aufgewachsen, aber immer mit dem Wissen, einen Vater zu haben, der sich nicht für sie interessierte, vielleicht nicht einmal von ihr wusste, und eine Mutter, die sie nicht wollte. Emma und Alex liebten sie, aber sie waren nicht ihre Eltern.
Floria kam Susan unendlich verloren vor. Christof Cormans Tod hatte sie noch nicht verkraftet. Susan wusste, Angst und psychische Belastungen konnten direkt zu Blockaden der Stimme führen.
Sie fragte sich, wie sie selbst mit einem solchen Verlust umgegangen wäre.
Auch sie war nicht frei von Ängsten. Die Anforderungen im heutigen Musikgeschäft waren hoch. Das, was Floria geschehen war, konnte jedem Sänger, jeder Sängerin passieren.
Susan war in ärmlichsten Verhältnissen groß geworden. Ihr Vater war Zugbegleiter gewesen, ihre Mutter Putzfrau. Die Eltern liebten ihre einzige Tochter abgöttisch und als ihnen klar wurde, welche Begabung in ihr schlummerte, hatten sie alles getan, damit sie werden konnte, was sie heute war.
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