Sie hatten hart gearbeitet, sehr hart. Susan hatte in Jazzkellern getingelt, um zusätzlich Geld zu verdienen. Ihre Eltern mussten auf vieles verzichten, um Ihre Ausbildung zu finanzieren. Nachdem sie ein Stipendium bekommen hatte, war es leichter geworden.
Emma hatte Florias Ausbildung bezahlt. Als sie sich kennenlernten, hielt Susan Floria zuallererst für das verwöhnte Kind reicher Eltern.
Als sie die Wahrheit erfuhr, hatte sie innerlich Abbitte geleistet. Sie waren Freundinnen geworden.
Susan war schon früh am Morgen in die Stadt gefahren, um sich mit einem Kollegen treffen.
»Das muss ein sehr interessanter Kollege sein.«
»Wieso? Du kennst ihn.« Sie nannte den Namen eines ziemlich bekannten und ziemlich attraktiven Tenors. »Und für ihn dieser ganze Aufwand?« Floria betrachtete ihre Freundin von oben bis unten.
Susan errötete. »Du bist so blöd.«
Floria lachte nur und umarmte sie. »Du siehst toll aus. Viel Spaß.«
Sobald Susan im Taxi davongefahren war, zog Floria ihre Stiefel an und ging in den Garten. Sie hatte Emma versprochen, die Gemüsebeete vorzubereiten.
Ihre Großmutter wühlte im Kräutergarten und lockerte die Erde um die Pflanzen herum. Sie summte leise vor sich hin.
Wie häufig hatte Floria sie in dieser Haltung gesehen. Den Hintern in die Höhe gestreckt, den Kopf dicht über der Erde, als ob sie daran schnupperte. Vermutlich tat sie das sogar. Alex und sie hatten sich oft darüber amüsiert.
»Lacht ihr nur.« Emma blieb ungerührt. Jedes Jahr um diese Zeit säte sie Rote Rüben, Petersilie, Möhren, Spinat, Chicorée und Zwiebeln, pflanzte bis Ende des Monats Frühkohl, Kopfsalat, Steckzwiebeln und dicke Bohnen.
Auch in diesem Jahr war sie nicht zu bremsen. Und es schien ihr gut dabei zu gehen.
Florias Blick fiel auf den Apfelbaum. Tim hatte es nicht vergessen. Da hing sie wieder. Sie konnte nicht widerstehen, ließ die Hacke fallen und stapfte hinüber. Sie setzte sich auf ihr altes Schaukelbrett, machte ein paar kleine Schritte rückwärts und stieß sich ab.
Sie flog. Es war Sommer. Sie war fünf Jahre alt und trug ein weißes Kleidchen. Weiß wie der Fingerhut, den Emma so liebte.
Der Garten zeigte seine Blütenfülle, voller Farben und Formen. Und über allem wachte die giftigste der Pflanzen in Emmas Garten. Floria mochte die Form und die Eleganz, mit der sich der sahnig weiße Fingerhut präsentierte. Kerzengerade erhob er sich stolz über die anderen Bewohner des Gartens. In ihrer kindlichen Fantasie trugen die Elfen seine Blüten als Kopfbedeckung, um die Menschen zu verzaubern oder zu töten.
Das flimmernde Sonnenlicht verwandelte das helle Tuch, das Emma sich um den Kopf geschlungen hatte. Floria kam zu sich und sprang von der Schaukel. Für einen Augenblick musste sie eingeschlafen sein. Emma als todbringende Fee?
Sie schüttelte sich. Was war nur in sie gefahren. Sie war erwachsen und es war Ende März.
Der Garten rief Erinnerungen und Träume hervor, die sie ängstigten. Floria beschloss zu laufen. Irgendwann landete sie vor Julians Haus.
Ramses lag vor der Haustür. Er erhob sich wie ein zuvorkommender Hausherr und begrüßte sie mit einem gedämpften Wuff.
»Hallo, Ramses. Wo ist Katja?«
Der große Hund spitzte die Ohren, ging ein paar Schritte und sah sich nach ihr um. Sie folgte ihm ums Haus herum in den Garten.
Katja saß am Rand einer Sandkiste. Sie sprang auf, als sie Floria erblickte.
»Dad, Floria ist da!« Im Haus rührte sich nichts.
»Spielst du mit mir?« Die Kleine nahm eine Stoffpuppe hoch und hielt sie ihr hin. »Das ist Rosa. Ich habe ihr gerade erklärt, warum sie nicht Klavierspielen darf.«
»Erklärst du es mir auch?«
»Du darfst ja.«
»Und du darfst nicht?«
»Dad will es nicht.« Katja sah ihre Puppe an. »Rosa hat es versucht und jetzt ist Dad böse.«
Welchen Grund mochte Julian haben, seinem Kind das Klavierspiel zu verbieten?
»Darf ich auf deinem Klavier spielen? Du kannst mir zeigen, wie das geht. Bitte, Floria.«
»Was soll Floria dir zeigen, Katie?«, fragte Julian.
»Wie Klavierspielen geht.«
Julian ging nicht auf Katjas Antwort ein. Er machte eine einladende Geste. »Möchtest du nicht hereinkommen?«
»Ich bin auf dem Heimweg. Eigentlich bin ich nur gekommen, um meine Kleider abzuholen.«
Er starrte sie verblüfft an. »Kleider?«
»Emmas Enkelin in der Tüte!«
»Oh, hab ich vergessen, tut mir leid. Ich fürchte, die sind noch im Kofferraum. Meinen Wagen bekomme ich heute oder morgen wieder.«
»Macht nichts, ich habe noch was anzuziehen.«
»Ich bring dir die Sachen vorbei.«
»Emma vermisst dich, Katja. Und deine Schaukel wartet auf dich.«
»Darf ich gleich mitkommen? Dad, bitte.«
»Meinetwegen, wenn es Floria recht ist. Ich hole dich nachher ab.«
Katja ließ Rosa in den Sand fallen und griff nach Florias Hand. Zu dritt machten sie sich auf den Weg zu Emma. Rechts Floria, links Ramses, dazwischen hüpfte Katja.
Julian nahm Rosa aus der Sandkiste und klopfte ihr den Sand aus den Kleidern. Die Puppe, die Emma bei ihrem ersten Besuch seiner Babytochter mitgebracht hatte, in der zerbrechlichsten Zeit seines Lebens. Im Haus fiel sein Blick auf den Flügel. Auf der glänzenden Oberfläche stand Ines’ Bild vor einem üppigen Strauß weißer Rosen. Deine Lieblingsblumen, dachte er.
Er nahm das Foto in die Hand und strich mit den Fingern über die Konturen des zarten Gesichts.
»Ich weiß, was du mir sagen willst.« Er seufzte. »Aber ich kann sie nicht auf deinem Instrument spielen lassen. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie darauf herumgestümperte.«
Er wusste, dass es falsch war, Katja das Spielen zu verbieten. Für ein Leben als Pianistin war Ines viel zu zart gewesen. Aber sie hatte gespielt wie ein Engel. Er hörte ihre Stimme. Du musst mich loslassen, Julian. Lass sie spielen. Sie könnte so werden, wie ich sein wollte. Mein Talent ist mein Vermächtnis an unsere Tochter. Soll sie das nie erfahren? Wenn sie ihre Begabung nun an Katja weitergegeben hätte … ?
Katja hatte viel von ihrer Mutter, aber sie war ein gesundes kräftiges Kind.
Dieses gesunde kräftige Kind ließ sich gerade von Floria hoch in den Himmel schaukeln.
Emma schmunzelte. Sie sah den beiden zu.
»Floria, darf ich jetzt Klavierspielen?«
»Wenn du möchtest.«
»Weißt du, im Kindergarten darf ich manchmal auch spielen.«
»Ach ja? Dann weißt du schon, wie es geht?«
»Aber nur ein bisschen.« Katja hopste von der Schaukel. »Emma, kommst du mit?«
»Nein Katja, ich will im Garten bleiben. Mach die Fenster auf, damit ich dich hören kann.«
Gleich darauf flogen die ersten Töne zu ihr hinaus. Hänschen klein . Im ersten Moment glaubte sie, Floria spielen zu hören.
»Das kannst du aber schon sehr gut.« Florias Stimme.
Wo hatte das Kind das gelernt? Emma schüttelte verwundert den Kopf. Sie wusste von der Abneigung Julians, Klaviermusik zu hören. Sie erinnerte ihn zu sehr an Ines.
Floria dachte, wenn dies das Ergebnis weniger Stunden im Kindergarten war, würde Julian es nicht schaffen, Katja vom Klavier fernzuhalten. Das Mädchen glühte vor Begeisterung. Sie spielte das einfache Kinderlied nicht nur herunter, sie begann zu interpretieren, spielte mal langsamer, mal schneller.
Ich muss dich davon überzeugen, dass du solch ein Talent nicht einfach brachliegen lassen darfst, mein Lieber. Sie beschloss mit Julian zu sprechen.
»Zeigst du mir noch mehr?«
»Ganz bestimmt, Katja. Aber erst will ich mit deinem Papa sprechen.«
»Er wird es nicht erlauben.«
Oh, doch meine Kleine. Glaub mir, er wird, wenn ich mit ihm fertig bin!
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