Die Familie stöhnte entsetzt.
„Doch, hab ich”, sagte eine Stimme aus den Schatten am Rand des Ganges.
„Miller!”, rief die Mäusemutter. „Du lebst?”
Sie fiel in Ohnmacht, und Mäuse-Mina musste sie aufsammeln.
„Ist dir wirklich nichts geschehen?”, fragte der Mäusevater. „Wir haben die Falle knallen gehört.”
Miller fing an zu heulen. „Mein Schwanz!”, sagte er. „Ein Stück ist ab. Es tut so weh!”
Ein weiterer Flammenstoß fegte von der Kellertreppe heran. Es roch verbrannt, und der Rauch ließ Mäuse-Mina husten.
Sie hob Miller auf. „Wir müssen hier weg.”
Alle stoben davon, den Gang hinunter, die Hitze des Feuers im Nacken. Das Fauchen der Flammen ließ nicht nach. Anscheinend war Agaskar außer Rand und Band und wollte sichergehen, dass keine Mäuse überlebten.
Erst nach zehn Minuten und tiefer in den Gängen als je zuvor, wagte die Familie es, stehenzubleiben und zurückzuhorchen. Alle waren außer Atem. Mäuse-Mina, in jeder Hand eine Maus, starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit. Hinter ihnen blieb es ruhig. Keine Schritte. Kein Feuer. Nur in ihrem Herzen brannte die Angst, als hätte die Glut Agaskars es angezündet.
„Glatt durch”, sagte Mäuse-Mina, nachdem sie Millers Wunde untersucht und mit einem Stückchen Tuch verbunden hatte. Die Schnappfalle hatte ein Stück von seinem Schwanz abgetrennt. „Ist nicht lebensgefährlich. Und das meiste ist ja noch dran.”
Miller schniefte.
„Hab dich nicht so”, sagte Halbschwanz nach einem kritischen Blick auf Millers verstümmelten Schwanz. „Ist höchstens ein Viertel ab.”
„Aber es tut weh!”, jammerte Miller.
„Da siehst du, wohin dich deine Unbeherrschtheit führt”, sagte der Mäusevater streng. „Es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre statt der Schwanzspitze dein Kopf ab gewesen.”
„Sag so was nicht!”, stöhnte die Mäusemutter. „Diese Fallen sind Teufelswerk.”
„Was machen wir jetzt?”, fragte Müriel.
„Irgendwann müssen wir zurück zur Treppe”, sagte der Mäusevater düster. „In diesen verfluchten Gängen können wir nicht bleiben. Sie scheinen nirgendwohin zu führen. Hier finden wir nichts zu essen.”
„Ein paar müssen doch nach draußen führen”, meinte Mintz.
„Ja, aber welche?”, sagte Mäuse-Mina. „Willst du sie alle ausprobieren? Das kann Tage dauern, und vielleicht verlaufen wir uns auch. Wir müssen erst mal dahin zurück, wo wir uns auskennen. Dann können wir weitersehen.”
„Ich geh zurück und erkunde die Lage”, erbot sich Halbschwanz.
Diesmal wies ihn niemand in die Schranken. Sie hatten keine andere Wahl, als sein Angebot anzunehmen, und insgeheim war Mäuse-Mina froh, dass sie es nicht selbst machen musste. Sie nahm an, den anderen ging es genauso.
Halbschwanz wirkte etwas ernüchtert, als kein Widerspruch auf seinen Vorschlag erfolgte. Er zögerte kurz.
„Also, ich geh dann”, sagte er.
„Sieh dich vor”, sagte der Mäusevater. „Wenn Agaskar immer noch bei der Treppe herumlungert, dann zieh dich sofort zurück.”
„Klar”, sagte Halbschwanz. „Bin doch nicht blöd.”
„Und pass auf die Fallen auf”, sagte Mäuse-Mina. „Vielleicht funktionieren noch ein paar.”
„Klar”, sagte Halbschwanz. „Bin doch nicht blöd.”
Weitere Ratschläge erfolgten nicht; offenbar mochte sich niemand vorwerfen lassen, er wolle Halbschwanz Blödheit unterstellen. Jedenfalls im Moment nicht.
Der Überlebende des legendären Kampfes mit einer Katze brach schließlich auf. Ohne Eile. Die Familie konnte seine gemächlichen Trippelschritte noch minutenlang hören.
„Nun geh endlich!”, rief Mintz ungeduldig.
„Ja ja!”, brummte Halbschwanz aus einigen Metern Entfernung. „So was will mit Vorsicht angegangen sein. Bin doch nicht blöd!”
Mäuse-Mina zupfte Mintz warnend am Schwanz, und diese verkniff sich daraufhin eine Antwort.
Sie warteten lange auf Halbschwanz´ Rückkehr. Sehr lange.
„Hoffentlich ist ihm nichts passiert”, sagte die Mäusemutter besorgt.
Mintz schnaubte. „Bei dem Tempo, das er angeschlagen hat, ist er wahrscheinlich noch nicht mal bei der Treppe angekommen.”
„Immer mit der frechen Schnauze voran, was, Schwesterchen?”, sagte eine Stimme aus dem Gang.
Alle fuhren erschrocken zusammen, aber es war nur Halbschwanz, der sich aus dem Dunkeln näherte.
„Und? Wie sieht´s aus?”, fragte Mäuse-Mina gespannt. Neben der Sorge um den Bruder war es vor allem die Frage, was nun aus ihnen werden sollte, die sie beschäftigte. Gab es zumindest einen Weg in den eigentlichen Keller oder waren sie hier in der Tiefe der Gänge gefangen und mussten jämmerlich zugrunde gehen? Die Ungewissheit war kaum zu ertragen.
„Bitte sehr, keine Ursache”, sagte Halbschwanz.
„Was soll das heißen?”, fragte Mintz.
„Oh”, sagte Halbschwanz geziert. „Ich dachte, ihr wolltet mir dafür danken, dass ich mich in Gefahr begeben habe, damit ihr alle im sicheren Versteck bleiben konntet.”
„Ja ja, schon gut”, sagte Mintz etwas beschämt. „Du bist eine tapfere Maus, Halbschwanz.”
„Das musste mal gesagt werden”, erklärte Halbschwanz feierlich.
„Nun, da es gesagt worden ist”, drängte Müriel, „erzähl uns endlich, wie es bei der Treppe aussieht.”
„Agaskar ist nicht mehr da”, sagte Halbschwanz. „Jedenfalls nicht im Keller. Hab mich vergewissert. Neue Fallen hat er auch nicht aufgestellt. Entweder muss er sich erst neue beschaffen oder er denkt, er habe uns alle erwischt.”
„Das wäre das Beste”, meinte Mintz. „Dann hätten wir erst mal Ruhe.”
Der Mäusevater räusperte sich. „Lasst uns zurückgehen und feststellen, ob wir dort noch leben können.”
Mit gemischten Gefühlen machten sie sich auf.
Der Gang bei der Treppe glich einem Schlachtfeld. Die Wände waren rußgeschwärzt und überall standen verkohlte Fallen, die das Feuer unbrauchbar gemacht hatte. Mäuse-Mina kickte sie alle zur Seite. Der Geruch nach verbranntem Holz und dem, was in den Fallen verbrutzelt war, hing schwer in der Luft.
„Das stinkt!”, sagte Müriel. „Es ist ungesund, in solcher Luft zu schlafen. Unsere Atemwege werden Schaden nehmen.“
„Wenn wir hier schlafen”, sagte der Mäusevater düster, „werden nicht nur unsere Atemwege Schaden nehmen. Wir sollten ernsthaft überlegen, ob wir das Haus verlassen und woanders hinziehen.”
„Aber wohin?”, fragte Mintz. „Das hier ist unsere Heimat. Es wird schwer sein, ein Haus wie dieses zu finden, wo Mäuse in Ruhe leben können.”
„Das gilt noch mehr für mich”, sagte Mäuse-Mina. „Ich kann mich nicht so leicht verstecken wie ihr. Wenn man mich entdeckt, wird man mich in ein Heim bringen.”
„Es muss auch woanders leer stehende Häuser geben”, meinte Halbschwanz.
Mäuse-Mina schüttelte den Kopf. „Nicht solche wie dieses. Es ist nicht einfach nur leer. Es ist aus den Gedanken der Menschen herausgerutscht. Sonst hätten sie es schon längst abgerissen oder neu vermietet.” Sie hatte in den letzten Wochen oft darüber nachgedacht, wegzugehen. Aber wohin? Sie hatte nie eine Antwort darauf gefunden. Vielleicht war dieses Haus der einzige Ort, an dem sie leben konnte wie sie es wollte. Der Gedanke war niederschmetternd. Die Dinge änderten sich auf eine Weise, die ihr Angst machte.
„Agaskar wird uns keine Ruhe lassen”, sagte der Mäusevater.
Alle nickten düster.
„Er ist böse”, sagte Mäuse-Mina.
„Jedenfalls hasst er Mäuse”, sagte Mintz.
„Das ist böse!”, rief Miller, der mit Leidensmiene und hängenden Ohren dasaß und seinen verbundenen Schwanz in den Pfoten hielt wie ein Beweisstück.
„Es gibt nur eins, das wir tun können”, sagte Mäuse-Mina grimmig. „Wir müssen Agaskar vertreiben.“
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