Mäuse-Mina beobachtete alles aufmerksam. In der Nähe der Ecke, die an das Rasenstück hinterm Haus grenzte, stand ein Junge an den Drahtzaun gelehnt. Die Schatten einer Fichte fielen auf sein Gesicht und verbargen seine Gedanken. Man konnte nicht sehen, ob er unbedingt allein sein wollte, aber Mäuse-Mina hatte keine Wahl. Die Pause würde bald zu Ende sein, und dies war vielleicht die beste Gelegenheit, die sich ihr bieten würde.
„Der da?”, fragte Mintz zweifelnd.
„Der da”, sagte Mäuse-Mina.
Mintz rümpfte zweifelnd die Nase. „Aber der hat rote Haare.”
„Na und?“
„Ich kannte mal eine Katze, die solche Haare hatte. Ein widerliches Mistvieh. Hätte mich fast gefressen.”
„Darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen”, sagte Mäuse-Mina entschlossen und schlich unauffällig hinüber zum Zaun. Mintz folgte ihr durch das Gras, blieb aber einige Schritte hinter ihrer Adoptivschwester zurück.
Mäuse-Mina hockte sich in die Schatten der Fichte neben dem Zaun. Außer dem Jungen waren keine Kinder in unmittelbarer Nähe, und niemand achtete auf sie.
„He! Du da!”, rief sie leise.
Der Junge am Zaun blickte kurz zur Seite, ohne Mäuse-Mina zu entdecken.
„Du da! Mit den roten Haaren!”, rief Mäuse-Mina etwas energischer.
Der Junge löste sich vom Zaun und drehte sich um. Als er Mäuse-Mina im Gras sitzen sah, schaute er sich unsicher um.
„Ich?”, fragte er.
„Ja. Komm mal her!”
„Warum?”, fragte der Junge misstrauisch.
„Ich will dich was fragen. Keine Sorge, ich tu dir nichts.”
„Pah!”, machte der Junge verächtlich. „Meinst du, ich hab Angst vor dir, Mäuse-Mina?”
„Na, dann komm doch her.”
„Was willst du denn?” Zögernd ging er zu der Stelle, wo Mäuse-Mina saß.
Sie reichte ihren Karton über den Zaun. „Kannst du mir vorlesen, was da draufsteht?”
Der Junge nahm den Karton. „Kannst du noch nicht mal lesen?”
„Wenn ich´s könnte, würd ich dich ja nicht fragen, du Schlaumeier”, sagte Mäuse-Mina ärgerlich. Es behagte ihr überhaupt nicht, sich von diesem rothaarigen Burschen helfen zu lassen, aber was sollte sie tun? Sie musste wissen, wie der alte Mann hieß.
„Agaskar”, sagte der Junge nach einem Blick auf den Karton.
„Agaskar”, flüsterte Mäuse-Mina. Es klang seltsam. Fremd. So einen Namen hatte sie noch nie gehört. Er musste von sehr weit her kommen.
„Was willst du denn von dem alten Herrn Agaskar?”, fragte der Junge.
„Du kennst ihn?”, fragte Mäuse-Mina erstaunt.
„Klar kenn ich den. Alle kennen ihn. Ein netter alter Mann. Er kommt oft an den Zaun und verteilt Lakritze. Die leckerste Lakritze, die ich je gegessen habe. Sie brennt ein bisschen im Hals, aber sie ist viel süßer als das Zeug, das man sonst bekommt.”
„Du hast davon gegessen?”, fragte Mäuse-Mina alarmiert.
„Na und?”
Mäuse-Mina schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht. Ich würd´s nicht tun.”
„Wieso?”, fragte der Rothaarige besorgt. „Alle haben davon gegessen. Wo ist das Problem?”
Mäuse-Mina überlegte, was sie ihm sagen sollte. Wahrscheinlich würde er ihr nicht glauben, aber sie hatte das Gefühl, sie müsste ihn warnen.
„Wie heißt du?”, fragte sie, um Zeit zu gewinnen.
„Hannes.”
„Also, Hannes, diese Lakritze ist nicht geheuer.”
„Was meinst du damit?”, fragte Hannes. „Ist sie vergiftet?” Er wurde blass.
Mäuse-Mina zuckte die Achseln. „Weiß nicht. Vielleicht. Er macht sie oben in seiner Wohnung, und wenn sie fertig ist, spuckt er Feuer drauf.”
„Er macht was?”
„Spuckt Feuer drauf.”
Hannes lachte. „Du spinnst. So was gibt´s ja gar nicht.”
„Hab ich auch erst gedacht. Aber Mintz hat´s gesehen.”
„Wer ist Mintz?”
Mäuse-Mina drehte sich zur Seite und zeigte auf ihre Adoptivschwester, die hinter ihr im Gras saß.
„Die Maus da?”, fragte Hannes ungläubig.
„Was ist?”, fragte Mintz. „Warum kuckt der mich so komisch an?”
„Er glaubt das mit dem Feuerspucken nicht”, sagte Mäuse-Mina.
„Geht den doch auch gar nichts an”, meinte Mintz kritisch. „Wieso erzählst du ihm das?”
„Der alte Mann verteilt die Lakritze an die Kinder. Der Junge hier hat auch was davon gegessen. Wir müssen ihn warnen.”
„Was piepst du da so herum?”, fragte Hannes misstrauisch. „Redest du etwa mit diesem Viech?”
„Das ist kein Viech”, sagte Mäuse-Mina ärgerlich. „Das ist meine Schwester.”
Hannes starrte sie mit offenem Mund an. „Du hast sie wirklich nicht alle, Mäuse-Mina.” Er sah aus, als ob er gleich davonlaufen wollte. „Dachschaden. Total plemplem. Ich fass es nicht!”
„Ist ja gut!”, sagte Mäuse-Mina kühl. „Nur weil du die Mäusesprache nicht verstehst, heißt das nicht, dass niemand es kann.”
„Mäusesprache!”, rief Hannes aufgebracht. „So was gibt´s ja gar nicht!”
„Nicht so laut!”, zischte Mäuse-Mina. Ein paar Kinder auf dem Schulhof schauten herüber, und sie duckte sich etwas tiefer in die Schatten der Fichte. „Ob du´s glaubst oder nicht, ist mir völlig egal. Wenn du weiterhin Agaskars Lakritze futtern willst, dann bitte sehr! Ich hab dich gewarnt.” Sie wollte sich zum Haus zurückschleichen.
„He, warte mal!”, rief Hannes leise. „Glaubst du wirklich, da stimmt was nicht mit der Lakritze?”
Mäuse-Mina schnaubte. „Also, ich würde nichts essen, wo der Kerl Feuer drauf gespuckt hat.”
„Hast du´s selber gesehen?”
„Nee. Mintz hat´s gesehen. Hab ich doch gesagt.”
„Ja klar”, sagte Hannes verächtlich. „Die Maus da hat´s gesehen und dir erzählt.”
„Andere haben´s auch gesehen.”
„Noch mehr Mäuse?”
„Na und?”
Hannes schien zu überlegen. „So merkwürdig ist das gar nicht. Das mit dem Feuerspucken. Ich hab so was schon mal gesehen.”
„Wirklich?”, fragte Mäuse-Mina verblüfft. „Wo denn?”
„Bei einem Straßenfest. Da war einer, der hat ´n Schluck aus einer Flasche in den Mund genommen und dann auf eine Fackel gespuckt. Hat ´ne ganz schöne Stichflamme gegeben.”
Mäuse-Mina überlegte. „Aber dann war es das Zeug in seinem Mund, das gebrannt hat. Das Feuer kam nicht aus seinem Innern.”
Hannes schnaubte. „Natürlich nicht. Wie soll denn richtiges Feuer in einem Menschen sein? Das ist Blödsinn.”
„Warte mal.” Mäuse-Mina gab das, was Hannes gesagt hatte, an Mintz weiter. „Meinst du, so könnte es bei Agaskar gewesen sein?”
„Bei wem?”
„Agaskar. So heißt der alte Mann. Hab doch gesagt, ich finde es raus.”
„Aha. Nee, da war keine Flasche. Das Feuer hat er einfach so ausgespuckt.”
„Hört sich total bescheuert an, wie du da rumfiepst”, sagte Hannes. „Kannst du wirklich verstehen, was die Maus sagt?”
„Ja, kann ich. Und die Maus sagt, da war keine Flasche. Das Feuer kam aus seinem Innern.”
Hannes tippte sich an die Stirn. „So was gibt es nicht. Ich an deiner Stelle würde mich nicht auf das verlassen, was eine Maus sagt.”
Mäuse-Mina schwieg verdrossen und zupfte an den Wollfäden ihrer Kappe.
„Was ist, wenn wir uns das selbst ankucken?”, sagte sie dann. Sie hatte es vorgeschlagen, bevor sie richtig darüber nachgedacht hatte. Bislang hatte sie jeden näheren Kontakt mit den Schulkindern vermieden. Andererseits brauchte sie vielleicht Hilfe.
Hannes zog zweifelnd die Nase kraus. „Wie soll das gehen? Willst du Agaskar heimlich beobachten?”
„Genau. Ich will wissen, was das für einer ist. Ich trau dem nicht. Vielleicht stellt sich raus, dass es besser wär, zu verschwinden.” Sie sah Hannes kritisch an. „Und willst du vielleicht weiterhin Lakritze essen, auf die einer Feuer gespuckt hat?”
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