„Zwick!”, rief seine Mutter entsetzt.
„Schließlich ist er in ein anderes Zimmer gegangen”, fuhr Zwick ungerührt fort. „Und blieb ziemlich lange weg. War überhaupt nichts zu hören. Ich dachte, der pennt bestimmt. Bin aus dem Ofenrohr raus und rüber zu der Tüte. Blitzschnell. Hab ´n Loch reingenagt und mit den Zähnen ´n Stück von ´ner Stange abgebrochen.”
Er verschwand kurz in den Schatten des Kellergangs und kam dann wieder zurück. Dabei hatte er ein schwarzes längliches Stück, so groß wie das oberste Glied eines kleinen Fingers, in seinem Maul. Er ließ es fallen, und es rollte zwischen die anderen Familienmitglieder, verfolgt von neugierigen und misstrauischen Augen. Es war spiralenförmig gedreht, und auf vier Seiten zog sich eine dünne rote Linie durch das Schwarz.
„Was ist ´n das?”, fragte Miller.
Mäuse-Mina nahm das Stück auf und betrachtete es genau. Sie roch daran. Es war der Geruch, der seit Tagen durchs Haus zog, nur schwächer.
„Ich glaube, das ist Lakritze”, sagte sie.
„Lakritze?”, fragte der Mäusevater, ehe Miller etwas sagen konnte. „Was soll das sein?”
„Ich hab mal so was gegessen. Es schmeckt nicht schlecht, solange man nicht zu viel davon isst. Süß, aber auch ein bisschen bitter. Es wird aus Pflanzen, Zucker und Mehl gemacht.”
„Kann ich mal probieren?”, fragte Miller hoffnungsvoll.
Mäuse-Mina schüttelte den Kopf. „Lieber nicht. Kommt mir nicht geheuer vor. Wieso macht der alte Mann da oben Lakritze in einem Kessel über einer Feuerstelle? Das ist verrückt. Man kann es überall im Supermarkt kaufen. Keiner macht es selbst.”
„Vielleicht will er es verkaufen”, sagte Müriel. „Ein Lakritzemacher, der durch die Gegend zieht und sich so sein Geld verdient.”
Mäuse-Mina zog die Nase kraus. „Hab noch nie von so einem Lakritzeverkäufer gehört. Ich glaube kaum, dass man davon leben kann. Und außerdem, wieso hat er Feuer drauf gespuckt?“
„Um sie fertig zu backen”, meinte Miller, der immer noch gierig auf das Stückchen Lakritze starrte.
„Diese roten Linien”, sagte Mäuse-Mina nachdenklich. „Was es damit wohl auf sich hat?”
„Vergessen wir nicht etwas?”, fragte Mintz. „Ich meine, der Typ spuckt Feuer! Wie ich euch vorhin schon gesagt habe. Aber mir glaubt ja keiner. Es ist immer noch ungeklärt, wieso er das kann, wenn er kein Drache ist.”
„Du hast Recht”, sagte Mäuse-Mina. „Das mit dem Feuerspucken ist ´ne merkwürdige Sache. Ich glaube, der alte Mann ist nicht von hier. Am besten wär´s, wir versuchten erst mal rauszufinden, woher er kommt.”
„Wie machen wir das?”, fragte Müriel.
„Frag ihn doch einfach”, sagte Halbschwanz zu Mäuse-Mina. „Ich würd´s tun.”
„Ja ja, der tapfere Halbschwanz”, spottete Mintz. „Kämpft gegen Katzen und Drachen, und alle fürchten sich vor ihm.”
„Klappe, Mintz!” Halbschwanz streckte ihr die Zunge raus. Diese Geste hatten sich die Familienmitglieder von Mäuse-Mina abgeschaut. Sie wirkte bei ihnen sehr eigenartig.
„Ich werd ihn ganz bestimmt nicht fragen”, sagte Mäuse-Mina grimmig. „Ich will auf keinen Fall, dass er auf uns aufmerksam wird.”
„Wie willst du es sonst rausfinden?”, fragte der Mäusevater.
„Das Namensschild!”, rief Mäuse-Mina. „Er hat doch ein Namensschild an seine Tür gehängt.”
Die Mäuse blickten skeptisch.
„Lasst mich nur machen”, sagte Mäuse-Mina.
Die folgenden Tage verbrachten Mäuse-Mina und ihre Familie damit, die Gewohnheiten des alten Mannes auszuspionieren. Man fand heraus, dass er jeden Vormittag um zehn aus dem Haus ging und um eins wieder zurückkam. Nachdem sich Mäuse-Mina von der Regelmäßigkeit dieses Vorgangs überzeugt hatte, schlich sie an einem grauen Morgen um halb elf durchs Treppenhaus nach oben, bewaffnet mit einem Blatt Pappkarton und einem Stückchen Kohle. Beides hatte sie im Keller gefunden.
Nach langem Grübeln darüber, wie sie den Namen des alten Mannes von seinem Namensschild herunter und in ihr Ohr hinein zwingen könnte, hatte sie sich schließlich einen Plan ausgedacht, der ihr etwas kompliziert, aber machbar erschien.
Verzagt stand sie vor der Tür der Wohnung im dritten Stock und lauschte einige Minuten bang ins Treppenhaus hinab, um sicherzugehen, dass der Alte sie nicht überraschen würde. Dann schaute sie sich die Zeichen auf dem Namensschild genau an und malte jedes einzelne sorgfältig mit Kohle auf der Pappe nach. Mehrmals verglich sie das Ergebnis mit dem Original, bis sie zufrieden feststellte, dass alle Striche und Bögen an den richtigen Stellen saßen. Ehrfürchtig faltete sie den Karton zusammen, ganz sorgfältig, um die Kohle nicht zu verschmieren. Es kam ihr vor, als hätte sie dem alten Mann durch Zauberkraft etwas gestohlen, und nun, da es in ihrem Besitz war, verschaffte es ihr ein wenig Macht über ihn. Sie überlegte kurz, ob er den Diebstahl bemerken könnte. Vielleicht sah man es den Zeichen an, wenn man sie abmalte und ihre Bedeutung mit sich davontrug. Vielleicht nutzten sie sich dadurch ein bisschen ab, und ihr Besitzer merkte es, wenn er genau hinsah.
Mäuse-Mina zuckte mit den Schultern. Das war ein Risiko, das sie eingehen musste.
Jetzt, da sie die Zeichen gestohlen hatte, wusste sie aber immer noch nicht, wie sie klangen, wenn man sie las und aussprach. Hier wurde ihr Plan ein wenig gefährlich, denn sie brauchte jemanden, der ihr die Zeichen auf dem Karton vorlas.
Sie hatte nicht viel Auswahl. Von der Kellertür auf der hinteren Seite des Hauses aus schaute sie hinüber zur Schule und wartete darauf, dass es zur Pause klingelte. Es war ein trüber Tag. Krähenwetter, nannte Mäuse-Mina es für sich, denn an solchen Tagen saßen die schwarzen Vögel überall mit eingezogenen Köpfen auf Zäunen und Ästen oder watschelten in Gruppen nachdenklich über den Rasen.
Endlich erklang das vertraute Klingeln, und die Kinder strömten auf den Schulhof. Es hatte keinen Zweck, sich einer Gruppe zu nähern. Man würde Radau machen, spotten, lachen und dadurch womöglich einen Lehrer herbeilocken. Mäuse-Mina musste ein einzelnes Schulkind erwischen und versuchen, möglichst unauffällig mit ihm ins Gespräch zu kommen.
Zunächst wollte sich keine Gelegenheit ergeben. Die meisten Kinder standen in Grüppchen zusammen oder rannten umher oder rannten sogar in Grüppchen umher. Es gab Auseinandersetzungen, vor allem zwischen Mädchen und Jungen. Boten wurden von den Grüppchen ausgeschickt, überbrachten Beleidigungen oder Herausforderungen und wurden mit Worten oder Taten in die Flucht getrieben und gejagt. Dann wurde unter höhnischem Gelächter gewartet, bis sich ein weiterer herantraute. Insgesamt war es ein lautstarkes Spektakel, und Mäuse-Mina, die das Treiben auf dem Schulhof noch nie so genau beobachtet hatte, fragte sich ungeduldig, wie sie ihr Ziel erreichen könnte. Schließlich klingelte es wieder und alle Kinder verschwanden schlagartig im Schulgebäude. Der Schulhof, eben noch Schauplatz ausgelassenen Trubels, lag verlassen und still da, als wäre alles nur ein Spuk gewesen.
„Das wird nichts”, sagte Mintz, die Mäuse-Mina begleitete, um ihr den Rücken zu stärken. „Du wirst auffallen, sobald du dich dem Zaun näherst.”
„Wir müssen eben Geduld haben”, sagte Mäuse-Mina, vor allem zu sich selbst, denn insgeheim teilte sie die Befürchtungen ihrer Mäuseschwester. „Manche Pausen sind länger. Dann werden sie vielleicht müde, bevor es wieder klingelt.”
In der nächsten Pause ging es zunächst genauso zu wie in der vorigen, doch zu Mäuse-Minas eigener Überraschung traf ihre Vorhersage ein. Das Treiben beruhigte sich nach einer Weile, die Gruppen entfernten sich voneinander und blieben für sich oder lösten sich auf. Manche der Kinder zogen sich zu zweit in eine Ecke zurück, vielleicht um mit dem engsten Freund oder der engsten Freundin Neuigkeiten oder Geheimnisse zu besprechen. Andere blieben allein, aßen ihr Pausenbrot oder starrten wie gebannt auf ihr Handy.
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