Die jüngsten Debatten über Postkolonialismus oder die Rückgabe von Kunstwerken aus den früheren Kolonien zeigen, dass das Trauma der Kolonialherrschaft auch nach der Erringung der politischen Unabhängigkeit auf vielen Ländern der Dritten Welt noch lastet. Nach wie vor existiert ein rassistisch oder kolonialistisch gefärbter
Überlegenheitsdünkel, den die Erste Welt gegenüber den Menschen und Gesellschaften in den früheren Kolonien einnimmt.
Auf hohem literarischen Niveau und mit einem unbestechlichen, präzisen Blick für die Realität seiner Gesellschaft zeichnete der in Tunesien als Jude geborene Albert Memmi erstmals in den 1950er Jahren mit seinen beiden Porträts einen Grundtext der antikolonialen Opposition.
Adam Shatz würdigt in seinem erstmals in der London Book Review erschienenen Artikel das Verdienst Alberts Memmis als bedeutendster Autor der Dekolonisierung. Seine hier wieder veröffentlichte Studie habe – auch wenn sie heute gewiss anders als in der Phase des Zerfalls der großen Kolonialimperien zu lesen ist – nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.
Albert Memmi Der Kolonisator und der Kolonisierte Zwei Porträts
Die Übersetzung folgt der französischen Ausgabe Portrait du colonisé précédé du Portrait du colonisateur , die 1966 im Verlag Jean-Jacques Pauvert erschienen ist. © Albert Memmi.
Aus dem Französischen von Udo Rennert
Das Vorwort von Jean-Paul Sartre wurde dem Band: „Kolonialismus und Neokolonialismus. Sieben Essays“ ( S. 23 Porträt des Kolonisators
– 28) entnommen mit freundlicher Genehmigung © Rowohlt Taschenbuchverlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1968.
E-Book (ePub)
© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021
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Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)
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ISBN 978-3-86393-576-4
Auch als gedrucktes Buch erhältlich:
3. Auflage /Neuausgabe mit einem Nachwort von Adam Shatz: © CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021
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Jean-Paul Sartre: Vorwort
Vorwort des Autors zur französischen Ausgabe von 1966
Porträt des Kolonisators
1. Gibt es den Kolonialisten?
2. Der Kolonisator, der sich verneint
3. Der Kolonisator, der sich bejaht
Porträt des Kolonisierten
1. Mythisches Porträt des Kolonisierten
2. Die Situation des Kolonisierten
3. Die beiden Antworten des Kolonisierten
Schluss
Nachwort zur deutschen Ausgabe von 1980
Nachwort zur Neuausgabe von Adam Shatz
Nur der Südstaatler ist befugt, sich über Sklaverei zu äußern: er kennt den Neger *; die Leute im Norden, abstrakt denkende Puritaner, kennen nur den Menschen an sich. Dies schöne Argument erfüllt stets noch seinen Zweck: in Houston, in der Presse von New Orleans und endlich – immer ist man irgend jemandes Nordstaatler – im »französischen« Algerien; da werden die Zeitungen nicht müde, uns zu versichern, dass einzig der Kolonisator qualifiziert sei, über die Kolonie zu sprechen: wir, die Bewohner des Mutterlandes, verfügen nicht über seine Erfahrung; wir müssen Afrikas brennende Erde durch seine Augen sehen, oder wir sehen dort nichts als Flammen.
Leuten, die sich von solcher Erpressung einschüchtern lassen, empfehle ich, das Buch Der Kolonisator und der Kolonisierte zu lesen. Hier steht Erfahrung gegen Erfahrung: der Autor, ein Tunesier, hat in La Statue de sel (dt. Die Salzsäule) seine harte Jugend erzählt. Was ist er nun in Wahrheit? Kolonisator oder Kolonisierter? Er selbst würde sagen: weder das eine noch das andere; Sie vielleicht: sowohl das eine wie das andere; im Grunde kommt es auf dasselbe hinaus. Er gehört einer jener eingeborenen, aber nicht islamischen Gruppen an, die, »mehr oder minder begünstigt im Verhältnis zu den kolonisierten Massen … sich ausgeschlossen sehen … von der kolonisierenden Gruppe«, die ihren Bemühungen, sich in die europäische Gesellschaft zu integrieren, immerhin »nicht ablehnend gegenübersteht«. De facto mit dem Subproletariat solidarisch, durch magere Privilegien von ihm getrennt, befinden sich jene Individuen in einer permanenten Malaise. Memmi hat diese doppelte Solidarität und diese doppelte Zurückweisung erfahren: die Spannung, die die Kolonisatoren den Kolonisierten und die »sich selbst verneinenden Kolonisatoren« den »sich selbst bejahenden Kolonisatoren« entgegenstellt. Er hat sie so gut verstanden, weil er sie zuerst als seinen eigenen Widerspruch erfahren hat. Er zeigt in seinem Buch vortrefflich, dass diese seelischen Zerrissenheiten, bloße Verinnerlichungen der sozialen Konflikte, einen nicht zum Handeln disponieren. Derjenige aber, der darunter leidet, kann, wenn er sich seiner selbst bewusst wird, wenn er sein Komplizentum, seine Versuchungen und seine Ausgeschlossenheit erkennt, andere aufklären, indem er von sich selbst spricht: als »belangloser Faktor innerhalb der Konfrontierung« repräsentiert dieser Verdächtige niemanden; da er aber zugleich ist , was alle sind, spricht er als zuverlässiger Zeuge.
Aber Memmis Buch erzählt nicht; wenn es sich von Erinnerungen nährt, so hat es sie ganz assimiliert; es ist formgewordene Erfahrung; zwischen der rassistischen Usurpation der Kolonisatoren und der künftigen Nation, die die Kolonisierten schaffen werden und von der »er vermutet, dass er in ihr keinen Platz haben wird«, versucht er, seine Partikularität zu leben, indem er sie in Richtung auf das Universale überschreitet. Nicht auf den Menschen, der noch nicht existiert, sondern auf eine strenge Vernunft hin, die sich für alle als zwingend erweist. Dieses nüchterne und klare Werk reiht sich ein unter die »leidenschaftlichen Geometrien«; seine ruhige Objektivität ist überwundenes Leiden und Aufbegehren.
Deshalb wohl auch kann man ihm einen Anflug von Idealismus zum Vorwurf machen: gewiss wird alles gesagt, doch kann man die Reihenfolge bekritteln. So wäre es vielleicht besser gewesen, zu zeigen, wie der Kolonialist und sein Opfer gleichermaßen im Räderwerk des kolonialen Apparats stecken, jener schweren Maschine, die gegen Ende des Zweiten Kaiserreichs und in der Dritten Republik konstruiert wurde und sich nun, nachdem sie die Kolonialherren voll zufriedengestellt hat, gegen sie kehrt und sie zu zermalmen droht. Tatsächlich ist der Rassismus dem System immanent: die Kolonie verkauft Lebensmittel und Rohstoffe billig ans Mutterland und kauft dafür teure Fertigprodukte. Dieser sonderbare Handel ist nur dann für beide Teile profitabel, wenn der Eingeborene für nichts oder fast nichts arbeitet. Das ländliche Subproletariat kann nicht einmal auf die Benachteiligtesten unter den Europäern als Verbündete zählen: alle leben von ihm, selbst noch die »kleinen Kolonisatoren«, die, obwohl von den Großgrundbesitzern ausgebeutet, im Vergleich zu den Algeriern noch Privilegierte sind: das Durchschnittseinkommen der Algerienfranzosen ist zehnmal so groß wie das der Araber. Daher die Spannung. Damit Löhne und Lebenshaltungskosten möglichst niedrig bleiben, bedarf es einer heftigen Konkurrenz der eingeborenen Arbeiter untereinander, also einer Steigerung der Geburtenrate; da aber die Ressourcen des Landes durch die koloniale Usurpation begrenzt sind, sinkt bei gleichbleibenden Löhnen der Lebensstandard des Moslems unablässig, und die Bevölkerung lebt im Zustand permanenter Unterernährung. Die Eroberung geschah durch Gewalt; die Überausbeutung und die Unterdrückung erfordern die Aufrechterhaltung der Gewalt, also die Anwesenheit der Armee. Nun gäbe es da keinen Widerspruch, wenn überall auf der Welt der Terror herrschte: aber der Kolonisator erfreut sich drüben im Mutterland der demokratischen Rechte, die das Kolonialsystem den Kolonisierten verweigert: tatsächlich ist es das System, das das Anwachsen der Bevölkerung begünstigt, um den Preis der Arbeitskraft zu senken, und das System ist es auch, das die
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