Joana Goede
Der Dichter und der Tod
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Inhaltsverzeichnis
Titel Joana Goede Der Dichter und der Tod Dieses ebook wurde erstellt bei
1 Prolog
2 Finden
3 Verwicklung
4 Suchen
5 Verschärfung
6 Hinweise
7 Ermittlung
8 Zuspitzung
9 Endspiel
Impressum neobooks
Ein tiefes, nahezu unerträgliches Frösteln hatte von ihr Besitz ergriffen. Irgendwo in der Magengegend hatte es begonnen, mitten in ihrem Bauch. Dieses Frösteln hatte sich langsam im ganzen Körper ausgebreitet. Zunächst war es schwerfällig vorwärts gekrochen, hatte sich nach und nach die nächstliegenden Organe einverleibt. Dann jedoch hatte es einen großen Sprung getan und das Herz erreicht. Dieses hatte mit einem heftigen Schlag zu beben begonnen, klopfte nun mit lautem Getöse, das in ihren Ohren abscheulich wiederklang, und ließ ihr keine Ruhe mehr. Als wenn es sich wehren wollte gegen die Kälte.
Der beschleunigte Herzschlag jagte ihr noch mehr als das Frösteln Furcht ein. Ihre Gliedmaßen begannen zu zittern, das Herz pochte hart und unregelmäßig, es wurde rasch schneller und verlangsamte sich dann wieder dermaßen, dass sie seinen Stillstand befürchten musste. Selbst im Sitzen wurde ihr schwindelig. Ihre kalten Finger vergrub sie ängstlich in ihrem Mantel, den Kragen hatte sie weit aufgerichtet, um wenigstens Hals und Nacken vor der Kälte von außen zu schützen.
Sie wusste nicht, was mit ihr geschah. Es war ihr, als würde ihr Körper ferngesteuert. Er gehorchte ihr nicht mehr, er verhielt sich nicht mehr normal. Ein schrecklicher Kopfschmerz setzte ein, der sich erst nur in großen Abständen zeigte, doch sich schließlich für immer längere Phasen einnistete, an Stärke zunahm und ihre Schläfen von beiden Seiten brutal zusammenpresste. Außerdem legte sich ein fester Film auf ihre Augen, der jedes Blinzeln schmerzhaft machte. Sie hielt sich die Hände an die Schläfen, sie wollte gleichzeitig ihr Herz festhalten, damit es ihr nicht davonrannte, sie wollte ihren Magen zur Beruhigung streicheln und hatte doch nicht für alles Kraft und Hände.
Stattdessen musste sie fühlen, wie es mit ihr stetig bergab ging. Als die Übelkeit aufkam und sie noch bemüht war, die aufsteigende Galle immer und immer wieder hinunterzuschlucken, um sich ja nicht hier und jetzt zu übergeben, dachte sie zuerst an eine Grippe. Erst vor wenigen Wochen hatte sie eine gehabt. Vier Tage hatte sie im Bett gelegen und ihr war auch so übel gewesen, sie hatte Fieber gehabt und konnte nichts zu sich nehmen. Bald jedoch, als das Erbrechen anfing und sie ihrer ganzen Körperlichkeit hilflos ausgeliefert war, wusste sie, dass es mehr war als eine Grippe.
Es fühlte sich nicht nach Krankheit an. Es fühlte sich nach Tod an.
Irgendwo aus der Dunkelheit heraus vernahm sie Schritte. So laut sie konnte, schrie sie um Hilfe. Hoffnung war in ihr aufgeflammt. Sie war nicht allein, jemand war mit ihr hier. Jemand, der ihr vielleicht helfen konnte.
Aber es zeigte sich keine Reaktion auf ihren Hilferuf. Die Schritte kamen und gingen. Ganz so, als liefe jemand beständig auf und ab. Auf und ab vor der Tür, hinter der sie gefangen saß. Die Tür, die sich durch nichts hatte öffnen lassen in der Zeit, die sie schon an dem unheimlichen Ort verweilte. Diesen zeichnete außer seiner intensiven Schwärze nichts aus. Nicht der winzigste Lichtschimmer drang zu ihr durch. Vielfach hatte sie sich Licht eingebildet. Sie hatte sich so manches eingebildet. Stimmen zum Beispiel. Natürlich auch Schritte. Womöglich waren auch die letzten Schritte, die sie gehört hatte, gar nicht echt gewesen, sondern ein böser Streich ihres Kopfes.
Sie sehnte sich nach Menschen. Nie in ihrem Leben hatte sie sich so sehr nach Gesellschaft gesehnt. Nach einer menschlichen Stimme. Nach jemandem, der einfach nur bei ihr saß und sprach. Selbst, wenn er ihr wahrscheinlich nicht helfen konnte.
Elend war sie in einer Ecke zusammengesackt. Ihr Puls wollte sie erschlagen. Magen und Darm wurden von inneren Krämpfen zerrissen.
Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie sie eigentlich hierher gekommen war. Aber konzentrieren konnte sie sich gar nicht mehr. Alles verschwamm in ihr. Selbst die inneren Bilder. Es kam ihr vor, als habe sie ihr ganzes Leben in diesem dunklen Gefängnis zugebracht. Als habe sie nie etwas anderes gekannt, als die unsichtbaren, kalten Wände und die Tür. Die Tür, die sich nie öffnete. Die nicht einmal über ein Schlüsselloch verfügte, durch das ein klein wenig Welt in den abgeschlossenen Raum hätte eindringen können. Von der Tür wusste sie nur, weil sie mehrmals die Wände des kleines Raumes abgetastet hatte, in dem sie sich befand. Unterschiedslos fügte sich diese in die allgemeine Schwärze ein.
„Ich will nicht sterben“, dachte sie. Sie dachte es wieder und wieder, während die Kraft aus ihr entwich. Ihr ganzer Körper wurde von einem gewaltigen Schmerz umgeworfen. Es fühlte sich an, als würden Fleisch und Muskeln von den Knochen gerissen, als würden dicke Nadeln in jeden Millimeter Haut gestochen, als finge jedes einzelne Organ Feuer und verbrenne, bis nichts als ein Haufen schwarzer Asche zurückblieb. Denken in egal welcher Form wurde ihr unmöglich. Der einzige Wunsch, den sie noch formulieren konnte, war es, möglichst schnell zu sterben. Alles andere hatte sie aufgeben müssen.
Alles andere hatte jegliche Relevanz verloren.
Die Nerven stachen, die Muskeln krampften, das Gehirn schaltete sich ab. Nur das Herz wollte und konnte einfach nicht zu schlagen aufhören.
Zuerst hatte er nur das tote Kaninchen gesehen. Und das auch nur stark verschwommen. Denn zum einen hatte es in Strömen gegossen, wie meistens im Frühling. Zum anderen hatte er seine Brille nicht dabei. Ohne Brille hat man als Halb-Blinder ja kaum eine Chance, so ein kleines totes Ding als das zu erkennen, was es tatsächlich ist.
Wie es dazu gekommen war, dass er seine Brille auf dem Küchentisch hatte liegen lassen, konnte Kromnagel sich nicht erklären. Es war schon öfter vorgekommen. Er war dann in Gedanken, nahm dabei die Brille in die Hände, ging auf und ab, drehte die Brille wild herum und schließlich, wenn er damit fertig war, legte er sie da ab, wo er gerade stand und verließ das Haus. Vollkommen unverständlich, warum er sie nicht einfach wieder auf die Nase setzte.
Dass es sich bei dem dunklen Punkt auf der Rasenfläche um ein lebloses, triefnasses Tier handelte, konnte Kromnagel daher erst mit Sicherheit feststellen, als er es näher untersuchte. Für diese Untersuchung musste er mit seinen Gummistiefeln über das aufgeweichte Gras stapfen, den Schirm mit beiden Händen umklammernd, damit der Wind ihn nicht mit sich fortriss, und sich vor dem dunklen Objekt tief hinunterbeugen. Dabei hatte er schon zweimal laut geflucht, bevor er überhaupt bei dem Tier angekommen war. Der eine Stiefel hatte, so wie es allen von Kromnagels Schuhen irgendwann erging, einen Riss an der Seite durch zu starke Beanspruchung erhalten. Durch diesen Riss drang beständig Regenwasser ein und fraß sich in seiner Kälte durch die Socke zum Fuß, der unangenehm auskühlte.
Kromnagel wollte soeben zum dritten Fluch ansetzen, als er das Ding vor sich endlich als Kaninchen identifizierte. Er hatte es nun aus einem halben Meter Abstand erkennen können. Auch, dass es schon länger tot war. Die Augenhöhlen starrten leer in das trübe Grau des Morgens, der Bauch war platt, als bestände er lediglich aus Haut und Knochen. Kromnagel dachte für sich: „Aufgefressen. Von innen heraus. Einfach aufgefressen.“
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