Paul Michael Lützeler / Markus Ender (Hg.)
Hermann Broch und Der Brenner
Edition Brenner-Forum
Herausgegeben von Sieglinde Klettenhammer und Ulrike Tanzer
Band 17
Wissenschaftlicher Beirat:
Prof. Dr. Katherine Arens (University of Texas, Austin, USA)
Prof. Dr. Jacques Lajarrige (Université de Toulouse II – Centre de Recherches et d’Études Germaniques, FRA)
Prof. Dr. Joanna Jabłkowska (Univ. Łódź, POL)
Prof. Dr. Alois Pichler (Univ. Bergen – Wittgenstein Archives, NOR)
Dr. Clemens Ruthner (Trinity College Dublin, IRL)
Paul Michael Lützeler / Markus Ender (Hg.)
Hermann Broch und Der Brenner
Paul Michael LÜTZELER
Vorwort
Paul Michael LÜTZELER (Washington University in St. Louis)
Einleitung: Hermann Brochs Der Tod des Vergil im Kontext: von Europa- und Ethik-Diskurs
Markus ENDER (Universität Innsbruck)
Die Rezeption Hermann Brochs im Makrokontext des Gesamtbriefwechsels Ludwig von Fickers
Anton UNTERKIRCHER (Universität Innsbruck)
Ethik und Ästhetik sind (nicht) Eins: Hermann Broch und das geheime Motto des Brenner
Monika RITZER (Universität Leipzig)
Brochs frühe Kulturkritik – und der Brenner
Stephen D. DOWDEN (Brandeis University)
Hermann Broch’s Brenner -Writings in the Light of European Modernism
Steen TULLBERG (University of Aarhus)
The Pathos of Experience: On the Presence of Kierkegaard in Hermann Broch’s Authorship – with a View to Theodor Haecker and Der Brenner
Jürgen HEIZMANN (Université de Montréal)
Vom Kommentar zur Transposition: Bezüge zu Thomas Manns Tod in Venedig bei Hermann Broch
Sarah MCGAUGHEY (Dickinson College)
An Experiment in ‘Zivilisationskritik’: Carl Dallago and Hermann Broch’s Vision of Nature in Die Verzauberung
Sigurd Paul SCHEICHL (Universität Innsbruck)
Hermann Broch und Karl Kraus
Sabine MÜLLER (Universität Wien)
Mathematisches Mysterium. Karl Kraus, die Formel und die Form in Hermann Brochs Frühwerk
Werner WINTERSTEINER (Alpen-Adria-Universität Klagenfurt)
Ethik und Politik in Brochs Völkerbund-Resolution : Eine postkoloniale Lektüre
Editorische Notiz
Vorwort
von Paul Michael Lützeler (Washington University, St. Louis)
Ein Höhepunkt der Aktivitäten des Internationalen Arbeitskreises Hermann Broch war Anfang Juni 2019 die internationale Tagung Broch und der ‚Brenner‘ an der Universität Innsbruck. Sie wurde von mir zusammen mit der Innsbrucker Kollegin Ulrike Tanzer, Direktorin des Brenner-Archivs, und ihrem Mitarbeiter Markus Ender vorbereitet. Dieses Symposium beschäftigte sich vor allem mit dem Frühwerk Brochs, das ohne den Kontakt von 1912/13 zu Ludwig von Ficker als Herausgeber der Kulturzeitschrift Der Brenner nicht denkbar ist. Die ersten Essays Brochs erschienen dort, und die Spurensuche der frühen Wirkungen auf das spätere Werk war ergiebig. Markus Ender und ich bereiteten anschließend die Dokumentation des Symposiums in der Reihe Edition Brenner-Forum vor, die vom Brenner-Archiv herausgegeben wird.
Der einleitende Vortrag von mir spricht viele der Themen an, die in den Vorträgen im einzelnen untersucht werden. Beim Tod des Vergil sind direkte Bezüge zwischen dem späten Roman und den frühen Publikationen im Brenner – sieht man von Einflüssen Theodor Haeckers ab – nicht unvermittelt herzustellen, weshalb hier auf eine Spurensuche verzichtet wurde, obgleich die frühen kulturkritischen Anmerkungen sowie die Reflexionen über Ethik und Ästhetik in der Entwicklung hin auf den Roman nicht unterschätzt werden dürfen. An den Anfang wurde die Untersuchung von Markus Ender gestellt. Hier wird der Stellenwert der Korrespondenz zwischen Hermann Broch und Ludwig von Ficker in ihrer Verhältnismäßigkeit gesehen: Wie wichtig war sie für Broch, wie wichtig für den Herausgeber der Zeitschrift? Seine Entwicklung hin zum Essayisten und Romancier ist ohne die Friktionen mit und ohne die Parallelen zu Ludwig von Fickers Ambitionen schwer vorstellbar. Das zeigen im Hinblick auf die ethisch motivierte Kulturkritk und die modern ausgerichtete Ästhetik im einzelnen die Beiträge von Anton Unterkircher, Monika Ritzer, Stephen Dowden und Steen Tullberg. Jürgen Heizmann, Sarah McGaughey und Sigurd Paul Scheichl weisen nach, wie sich die frühe Auseinandersetzung mit den inzwischen kanonisierten Autoren Thomas Mann und Karl Kraus sowie mit dem schon bald wieder vergessenen Carl Dallago im Romanwerk Brochs nachweisen lässt. 1936/37 stellte Broch den lange unterbrochenen Kontakt zu Ludwig von Ficker erneut her. Damals schrieb er die politische, gegen Menschenrechtsverstöße totalitärer Staaten gerichtete Völkerbund-Resolution, über die Werner Wintersteiner einen Aufsatz beisteuert.
Symposien sind mehr als aneinandergereihte Vorträge. Die Diskussionen, für die dankenswerterweise genügend Zeit angesetzt worden war, trugen zur Differenzierung des Bildes bei, das wir vom jungen Broch haben. Kollegial, ja freundschaftlich waren auch die Gespräche am Rand, die sich nicht zuletzt bei dem wunderbaren Ausflug nach Mösern in Tirol ergaben, zu jenem Dorf, in dem Broch 1935/36 im Klotz-Hof seinen Roman Die Verzauberung schrieb. Die Klotz-Familie bewirtschaftet in der Enkelgeneration den Hof immer noch, und man freute sich über unseren Besuch. Seit den 1960er Jahren erinnert eine Gedenktafel der Österreichischen Gesellschaft für Literatur am Klotz-Hof an die Zeit Brochs in Mösern. Bei den Spaziergängen auf den Spuren Brochs entdeckten wir auch einen als „Broch-Weg“ ausgewiesenen Pfad, der zum Möserer See führt. Der Blick in die schon Broch „verzaubernde“ Tiroler Bergwelt sowie die Besichtigung der Friedensglocke in Mösern sind in bester Erinnerung geblieben.
Für die Gastfreundschaft des Brenner-Archivs und für den von Christine Riccabona organisierten Ausflug gilt unser Dank Ulrike Tanzer. Das Symposium war der Beitrag des Brenner-Archivs zu den Feiern im Umkreis des 350. Geburtstags der Universität Innsbruck.
Paul Michael Lützeler, Januar 2020
Einleitung
Hermann Brochs Der Tod des Vergil im Kontext von Europa- und Ethik-Diskurs
von Paul Michael Lützeler (Washington University in St. Louis)
I. Kontext: Der literarische Europa-Diskurs – politische Krise und Kulturbruch
In allen Krisen- und Umbruchszeiten des Kontinents waren die Schriftsteller mit Rückblicken in die Vergangenheit, Analysen der Gegenwart und Zukunfts-Visionen zur Stelle. Es wurden kollektive Identitäten stabilisiert oder zu verändern gesucht, 1 das kulturelle Gedächtnis aktiviert, 2 die Gegenwart analysiert und imaginativ Möglichkeiten einer besseren Zukunft als Alternativen beschworen. 3 Das ist noch immer so, wie die Europa-Essays von Autorinnen und Autoren wie Barbara Frischmuth, Adolf Muschg, Hans Magnus Enzensberger und Robert Menasse zeigen.
Der jahrhundertealte Europa-Diskurs, in dem es um die Überwindung dynastischer oder nationaler Konflikte auf dem Kontinent ging, kennt zwei Hauptaspekte, einen institutionellen und einen kulturellen. 4 Dem institutionellen ist es um Entwürfe politischer Funktionseinheiten zu tun, die inter- und transnationale Kooperationen ermöglichen. Im Kulturdiskurs geht es um Definitionsversuche europäischer Identität. Seit der Frühmoderne dominierten die institutionellen Projekte, d.h. man dachte über konföderale Strukturen nach, die mit ihren Schiedsgerichten oder Abgeordnetenversammlungen militärische Konflikte verhindern würden oder zu Bündnissen führen sollten, falls fremde Großmächte – etwa das Osmanische Reich – europäische Länder erobern wollten. Hier sind Namen zu nennen wie die des Herzogs von Sully (im Dreißigjährigen Krieg), des Abbé de Saint-Pierre (am Ende des Spanischen Erbfolgekriegs), Jean Jacques Rousseaus (während des Siebenjährigen Krieges) und Immanuel Kants (im Kontext der frühen Koalitionskriege gegen das revolutionäre Frankreich). Stets waren es die katastrophalen Folgen militärischer Aktionen, die Gelehrte und Schriftsteller herausforderten, Kooperationsprojekte zu entwerfen, um weitere Schwächungen des Kontinents zu verhindern. Mit der Zeit der Romantik nahm die Zahl der kulturell argumentierenden Autoren zu, die sich auf einheitsbildende christliche Traditionen besannen. Man denke an Novalis in Deutschland und François René de Chateaubriand in Frankreich. Angesichts der gewaltbereiten, konfrontativen Zerrissenheit Europas nach Reformation und Revolution, warteten sie mit Konstrukten von alter erinnerter wie künftig möglicher Unifikation auf.
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